"Hush" von Dylan Farrow:Zweifelhafte Vaterfiguren

Lesezeit: 4 min

"Me Too" im Fantasyland: Dylan Farrows Romandebüt "Hush".

Von Susan Vahabzadeh

Das Beste am Reich der Fantasie ist, dass sich dort Dinge in Ordnung bringen lassen, für die die Wirklichkeit keine Lösung parat hat. Das Fantasy-Genre ist über die vergangenen Jahrzehnte zu einem Dauerbrenner geworden. Es trifft einen Nerv der Zeit: Fantasy bedient die Sehnsucht nach Magie, dem geheimen Wort, das alles klärt. Und weil einem ehernen Gesetz folgend alle Fantasy-Geschichten in einer Art Mittelalter spielen, das immer dann anfallsartig in Modernität ausbricht, wenn die Heldin gerade eine Badewanne mit fließend Warmwasser brauchen kann, bekommt die Zivilisationsmüdgkeit beim Lesen oder Zuschauen dann auch gleich eine wohlverdiente Pause.

Jetzt hat das Fantasy-Universum einen Neuzugang. Montane, die Welt, in der das Jugendbuch "Hush - Verbotene Worte" (Loewe-Verlag, 416 Seiten, 19,95 Euro) von Dylan Farrow spielt, erfüllt die Sehnsucht nach Zauber und schlichten, sehr analogen Verhältnissen.

Was ist Realität und was Hirngespinst? Damit hadert nicht nur die Autorin, sondern auch ihre Heldin

"Hush" spielt in dieser Tolkien-Zeit, in der ein jeder durch den Schlamm waten muss, der kein Pferd hat. Der Herrscher über Montane, Lord Cathal, residiert im Hohen Haus und bleibt für sein Volk unsichtbar; er lässt es darben. Seine Agenten sind die Barden, die über Land reiten. Und diese Barden haben Zauberkräfte. Sie können Häuser zum Einsturz bringen und Wände verrücken, vor allem aber können sie es auf verdorrte Felder hinabregnen und blühende Landschaften entstehen lassen. Wenn sie nur wollen. Das Dorf, in dem Shae, die Heldin des Romans, lebt, könnte diesen Segen gut gebrauchen. Aber wer arm ist, ist leichter zu unterdrücken.

Shae ist ein Teenager, in ihrem Dorf sind alle arm. Ihr geht es besonders schlecht. Bruder und Vater sind gestorben, und so hütet sie ein paar Schafe, aus deren Wolle ihre Mutter Garn spinnt. Es sind schreckliche Zeiten. Es gibt eine lange Liste verbotener Worte, und Bücher, überhaupt alle Schriftformen, sind gegen das Gesetz. Wer sich widersetzt, den rafft eine Krankheit dahin, die sich wie Tintenflecken auf der Haut ausbreitet. Ihre Mutter hat kein Wort mehr gesprochen, seit der Bruder an dieser Krankheit gestorben ist. Und mit Shae redet kaum jemand außer Fiona, der Tochter des Lebensmittelhändlers. Shae und ihre Mutter gelten als Aussätzige. Doch dann wird die Mutter ermordet.

"Hush" erscheint auf Deutsch in einer schönen Übersetzung von Alexandra Ernst, ein zweiter Teil ist schon in Arbeit. Es ist das erste Buch der Autorin Dylan Farrow. Eine erhöhte Aufmerksamkeit war ihr gewiss. Sie ist die Adoptivtochter von Mia Farrow und Woody Allen. Die Farrows werfen Allen vor, er habe sie 1992 als Kind sexuell missbraucht. Der Regisseur bestreitet die Vorwürfe.

Blicke, die "sich wie Dolche in ihren Körper bohren": Vor Klischees hat Farrow keine Angst

Es ist naheliegend, in diesem Buch nach allerlei Schlüsselfiguren zu suchen und nach Handlungssträngen, die mit dieser Vorgeschichte zu tun haben. "Hush" handelt nicht von sexuellem Missbrauch. Es gibt allerdings ein Grundthema, das sich sehr wohl aus Farrows eigenem Erfahrungsschatz speist. Ihrer Heldin wird immer wieder vorgehalten, dass sie nicht unterscheiden könne zwischen Hirngespinst und Realität, bis sie ihrer eigenen Wahrnehmung misstraut. Die Barden können Räume zaubern, die gar nicht existieren.

So gesehen ist "Hush" also durchaus ein "Me Too"-Fantasy-Roman. In dem Bücherverbot, den Trugbildern verdichtet er zu Magie, was ein Kernproblem der Debatte ist: Für Sexualstraftaten gibt es oft keine Zeugen, und den Opfern wird nicht geglaubt.

Die Vergewaltigungsprozesse gegen Bill Cosby und Harvey Weinstein kamen nur zustande, weil es so viele Opfer gab, dass es langsam lächerlich wurde, allen vorzuwerfen, sie hätten die Übergriffe nur erfunden. Oft ist es aber schwieriger - weil tatsächlich kein Außenstehender beurteilen kann, was die Wahrheit ist. Der Fall von Farrow/Allen ist kompliziert. In einem Prozess wurde Woody Allen 1993 zwar das Sorgerecht aberkannt, der Richter befand aber, dass sich die Frage des Missbrauchs nicht abschließend klären lasse. Manche Gutachter hielten seine Schuld für möglich, andere wiederum glaubten, Mia Farrow habe ihrer Tochter die Sache vielleicht eingeredet.

(Foto: N/A)

Ein Fantasy-Roman ist ein ziemlich gelungenes künstlerisches Mittel, die Not eines Menschen darzustellen, dem dauernd erzählt wird, seine Erinnerungen seien vielleicht nicht real. Shae jedenfalls sieht manchmal Dinge, die man ihr nur vorgegaukelt hat; aber heißt das, sie hat den Dolch in der Brust ihrer Mutter nicht gesehen? Shae, die eigentlich nur den Mörder ihrer Mutter finden will, landet im Hohen Haus als Bardin - sie selbst hat Kräfte, von denen sie zunächst nichts wusste. Ausgerechnet der zwielichtige Lord Cathal wird bald ihr Mentor. In ihm kann man natürlich eine Adoptiv-Vaterfigur sehen. Sehr ergiebig ist diese Lesart allerdings nicht; dazu nimmt er nicht genug Raum ein. Aber er ist ohnehin nicht der einzige Bösewicht in Farrows Buch - und sie verfährt milde mit den Verfehlungen ihrer Figuren, die sich immer noch zum Guten wenden können.

Shaes schöner Lieblingsbarde, die Blicke, die "sich wie Dolche in ihren Körper bohren", die prachtvollen Rösser - vor Klischees scheint Dylan Farrow keine Furcht zu haben. Ein großer literarischer Wurf ist der atemlose Dauer-Präsens in "Hush" eher nicht, aber ihr düsteres Reich, in dem alle auf Erlösung hoffen, schildert sie zumindest so spannungsreich, dass sich ihre Erzählung mühelos wegschmökern lässt. Der zweite Band von "Hush", hat Dylan Farrow gesagt, werde eine ganz andere Geschichte erzählen als der erste. Es kann auch gar nicht anders sein; denn Shae kämpft am Ende nicht mehr für ihr eigenes Recht, sondern für ganz Montane, und sie hat sich Verbündete gesucht, die zu ihr halten.

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