"Dunkirk" im Kino:Der simple Wunsch, nicht zu sterben

400 000 Soldaten warteten im Mai 1940 auf ihre Rettung am Strand von Dünkirchen, während die Wehrmacht näherrückte.

400 000 Soldaten warteten im Mai 1940 auf ihre Rettung am Strand von Dünkirchen, während die Wehrmacht näherrückte.

(Foto: Warner Brothers)

Ein spektakulärer Großangriff auf die Sinne: Christopher Nolans "Dunkirk" spielt im Zweiten Weltkrieg, aber eigentlich geht es um jede Armee, die je geschlagen wurde.

Von Tobias Kniebe

Fliegerbombentreffer, Mörsereinschläge, Explosionsfontänen. Verlorene, die ihr Schicksal am Strand erwarten, in Reihen aufgestellt, in die Tiefe gestaffelt, Fluchtpunkt Unendlichkeit; dann Rettungsschiffe, Torpedotreffer, Todeskampf der Ertrinkenden. Aber auch die Stille im Cockpit eines Jagdflugzeugs, wenn der letzte Tropfen Sprit verbraucht ist und das Meer tief unten wie flüssiges Silber glänzt.

Christopher Nolans "Dunkirk" ist ein Großangriff auf die Sinne, einer der bisher größten im Genre des Kriegsfilms und sicherlich der größte in seinem bisherigen Schaffen. Er ist aber auch, mit seinem durch nichts gemilderten Fokus auf die Sensorik des Überlebenskampfs, ein erstaunliches Werk des Minimalismus: Eine dieser Erfahrungen, die wirklich von der Macht des Kinos handeln, die am Ende am ehesten einer Trance vergleichbar sind.

Die Handlung beginnt, wo besonders pessimistische Filme des Genres sonst enden. Eine französische Geisterstadt, ein Trupp britischer Soldaten, führungslos und am Ende, hier ein Schluck aus dem Gartenschlauch, dort ein Griff nach alten Zigarettenstummeln.

Schüsse von irgendwo finden leichte Ziele, nur einer kommt durch, ruft verzweifelt, er sei Engländer, wird näher gewinkt und fragt gar nicht mehr, was los war. Feindliches Feuer, freundliches Feuer, auch schon egal.

Mit diesem Überlebenden, gespielt nicht umsonst von einem 20-jährigen Unbekannten namens Fionn Whitehead, exemplarisch Tommy genannt, überwindet der Film nun den letzen Verteidigungsring, wankt vorbei an den Umkleiden des Grand Hotels, völlig verlassen jetzt, hinunter zum Strand.

Dort weitet sich die Sicht, dort weiten sich auch Tommys Augen. Ein einmaliger Anblick der Kriegsgeschichte: Davongekommene wie er, über den riesigen flachen Strand verteilt, 400 000 sind es, die Reste der britischen Armee in Dünkirchen, in den letzten Tagen des Mai 1940, abgeschnitten vom Nachschub, eingekesselt von deutschen Truppen.

Wobei, das ist schon Nolans erste, weitreichend brillante Entscheidung - deutsche Soldaten werden nie sichtbar sein. Sie sitzen in Bombern und Jagdflugzeugen, sie feuern Granaten oder Kugeln, aber eigentlich sind sie abstrakt, nur der stetig heranrückende, unaufhaltsame Feind.

Es gibt keine Lagekarten, keine bunten Nadeln mit Fähnchen, keine Panzertruppenpfeile, keine Übersicht. Wenn Offiziere (Kenneth Branagh, James D'Arcy) über die Gesamtlage reden, dann nur das Allernötigste, und sie werden auch nur in den Film eingeführt, weil Tommy und andere einfache Soldaten ihr Gespräch heimlich belauschen.

Es geht um die Rädchen im längst kaputten Getriebe

Denn die alte Erkenntnis ist ja wahr, dass Krieg vor allem die Erfahrung des einfachen Kämpfers ist, der unklaren Lage im Schiffsrumpf, der Panik im Pilotensitz einer Spitfire, wenn die Kanzel langsam voll Wasser läuft, der Verzweiflung des Schwimmers, wenn Öl auf dem Wasser brennt. Nicht mehr zu sein als ein Rädchen im längst kaputten Getriebe - dieses Gefühl ist es, das Christopher Nolan hier sucht.

Natürlich geht es auch darum, das "Miracle of Dunkirk" zu erzählen, die Rettung und Verschiffung von mehr als 330 000 Mann zurück über den Ärmelkanal, zum Teil durch kleine zivile Boote.

Aber eben sehr fragmentiert: Nolan erzählt von Tommy und zwei weiteren Versprengten, die sich mit ihm zusammentun; von zwei Piloten der Royal Air Force (Tom Hardy und Jack Lowden), die mit ihren Flugzeugen aus der Luft zu Hilfe kommen; vom Kapitän einer für die Rettung requirierten Yacht (Mark Rylance), der mit zwei Jugendlichen an Bord über den Kanal fährt.

Ihre Schicksale werden sich irgendwann treffen, kurz vor dem Ende der Geschichte. Schon davor aber wirbelt der Filmschnitt sie durcheinander, sprengt damit die Chronologie und verdichtet zugleich die Zeitebenen - noch so ein gewagtes, letztlich spektakulär erfolgreiches Manöver dieses Films: Aus einer Woche wird ein Tag wird eine Stunde wird ein Schicksalsmoment. Oder besser gesagt ganz viele.

Die Aura des Handgemachten passt zum Genre des Kriegsfilms

Wie Bodenkämpfe, Seefahrt und Luftschlachten dabei ineinandergreifen, ist bei aller Hektik und Klaustrophobie auch immer wieder von großer Schönheit. Weite Teile des Films wurden unter Führung des Kameramanns Hoyte van Hoytema auf Imax-Kameras gedreht, auf althergebrachten Filmrollen also, im größten verfügbaren Format.

Es hat schon wirklich was, diese superschwere Mechanik außen an originale alte Jagdflugzeuge anzuflanschen, damit jede Niete im Blech über dem Ärmelkanal den Geist des Realen atmet. Was immer die Pixelbastler an ihren Bildschirmen sonst so können - dieses Gefühl ist anders einfach nicht zu haben.

Hier kämpft Nolan den Kampf eines Überzeugungstäters, der zusammen mit Verbündeten wie Quentin Tarantino die traditionelle Filmtechnik vor dem Siegeszug der Digitalisierung retten will. Wo immer heute noch funktionierende 70-Millimeter-Projektoren stehen, werden sie auf Nolans Drängen jetzt wieder angeworfen - in Deutschland sind fünf Kinos dabei.

Diese Aura des Handgemachten passt zum Genre des Kriegsfilms und seinem Traditionalismus. Wie wenig Nolan aber sonst mit dessen Konventionen zu tun haben will, bezeugt zum Beispiel die Musik. Sie stammt vom deutschen Hollywood-Komponisten Hans Zimmer, der jahrelang gerne für abgewandelte Militärmärsche gebucht wurde, die mit stampfendem Pathos über alle Weltmeere dampften, zum Beispiel bei "Fluch der Karibik".

Nolan entlockt ihm sein bisher subtilstes Werk: Elektronisch gewebte, tragische Klangflächen, die an ferne Sirenen erinnern, manchmal durchzuckt vom Ticken ablaufender Lebenszeit.

Wie sehr seine Uhr tickt, muss Tommy gleich beim ersten Luftangriff erleben, flach in den Sand gedrückt, während die Explosionen an ihn heranrücken und dann wie durch ein Wunder stoppen.

Nun wird er alles tun, um schneller auf ein Evakuierungsschiff zu kommen. Einen falschen Sanitäter spielen, sich unter dem Ponton verstecken, den Kopf unter Wasser tauchen, um einen Schiffbruch vorzutäuschen, jedes Mittel ist recht. Doch auch der ersehnte Platz nach England verwandelt sich fast in ein Todesticket, nach dem Prinzip Mensch-ärgere-dich-nicht geht alles von vorn los, zurück zum Start, zurück an den Strand.

Wie in allen Kriegserzählungen ist der Schicksalsgott hier natürlich der Autor selbst. Meist war das ein Job mit klaren Regeln. Geborene Helden fanden den Heldentod, der Jedermann, der über sich hinauswuchs, durfte überleben, dem Feigling winkte Vergebung, wenn er Reue zeigte und sich zum Opfer bereitfand.

Nolan entscheidet anders: Mal stirbt ein 17-Jähriger fernab der Schlacht, scheinbar ohne Grund, mal drückt man den Tricksern heftig die Daumen, mal findet ein traumatisierter Drückeberger unverdiente Erlösung.

Denn es geht um das Grauen des Zufalls. Was hier aber nichts Spekulatives mehr hat, wie noch in Nolans Superheldenfilmen der "Dark Knight"-Trilogie, denen die Bereitschaft zur schlimmstmöglichen Wendung in die dunkle Seele geschrieben war.

Ein Blinder, der das entscheidende Urteil spricht

Hier herrscht Empathie, ein großes Verständnis für den simplen Wunsch, nicht zu sterben. "Wir haben doch nur überlebt", sagt einer der Geretteten am Ende, beschämt in einem englischen Hafen. "Das ist genug", antwortet ein alter blinder Mann, der Decken verteilt.

Diese Figur wird von John Nolan gespielt, Christopher Nolans Onkel, aber man darf in diesem Kurzauftritt wohl ein Selbstporträt des Regisseurs sehen. Ein Blinder, der das entscheidende Urteil spricht, zeugt das nicht von geradezu homerischen Ambitionen?

Ein großer Fantasiewelt-Erfinder nimmt sich hier zum ersten Mal der Zeitgeschichte an, und er verneigt sich vor ihr, zum Beispiel durch seine Besetzungsliste, auf der kein einziger Amerikaner erlaubt war. Aber im Grunde geht es doch um Überzeitliches, um Sage und Mythos, um die Israeliten am Roten Meer, um jede Armee, die je geschlagen wurde, um jeden Krieger, der je davonkam.

Worum es eher nicht geht, ist das übliche Spiel auf der Klaviatur der Gefühle, das zum Beispiel einen Spielberg-Film zum selben Thema wohl unerträglich machen würde.

Britische Zuschauer, die hier ein wenig Stärkung in Brexit-Zeiten suchen - wir stehen zusammen, wir stemmen das zur Not allein -, gehen zwar nicht ganz leer aus, müssen sich aber mit dem Nötigsten begnügen: Ein paar Union Jacks, die im Fahrtwind wehen, ein wenig Euphorie, als die kleinen Schiffe bei den Gestrandeten ankommen und mit Jubel begrüßt werden, ein wenig Hurra, wenn eine deutsche Messerschmitt rauchend vom Himmel stürzt.

Und Churchill ganz zum Schluss, mit seiner Rede vom Kampf bis zum Ende, zur See und in der Luft, auf den Stränden und Feldern, den Hügeln und den Straßen. Aber auch den gibt es nicht pathetisch im Originalton, sondern nur aus der Zeitung vorgelesen - von der Stimme eines müden, restlos erschöpften Soldaten.

Dunkirk, USA 2017 - Regie und Buch: Christopher Nolan. Kamera: Hoyte van Hoytema. Schnitt: Lee Smith. Musik: Hans Zimmer. Mit Fionn Whitehead, Kenneth Branagh, Mark Rylance, Tom Hardy, Cilian Murphy. Verleih: Warner, 107 Minuten.

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