Süddeutsche Zeitung

Schauspielhaus Düsseldorf:Ehre für alle

Andreas Kriegenburg zeigt in "Minna von Barnhelm" in Düsseldorf, dass Lessing ganz schön viel von Gleichberechtigung versteht.

Von Martin Krumbholz

Damals, 1976, war die Welt noch in Ordnung. Dieter Dorn inszenierte an den Münchner Kammerspielen Lessings Lustspiel "Minna von Barnhelm" quasi idealtypisch, topbesetzt bis in die kleinste Nebenrolle (Cornelia Froboess und Helmut Griem spielten die Hauptrollen). Wenn die Erinnerung nicht trügt, ging Dorn das Stück aus einer ungetrübt aufklärungsoptimistischen Perspektive heraus an, die Konflikte schienen beherrschbar. Je länger der Abend dauerte, desto heiterer und wunderbarer war alles. Die Welt war gerettet, das Theatervolk jubilierte.

Und heute? Müssen Klassiker nicht grundsätzlich neu gelesen, auf ihre sonderbaren Konflikte, auf ihre überholten Rollenmuster hin befragt werden? Und worum geht es in diesem 1763 geschriebenen Stück vom "Soldatenglück" überhaupt? Der verabschiedete Major von Tellheim, der sich zu Unrecht mit einem Bestechungsvorwurf konfrontiert sieht, versetzt seinen Verlobungsring - aus Geldknappheit, aber auch, weil er glaubt, als ein in seiner "Ehre" gekränkter Mann sich seiner (übrigens wohlhabenden) Braut nicht mehr zumuten zu dürfen. Und diese, also Minna, kuriert ihn erfolgreich, mit recht rabiaten Mitteln zwar, aber es ist ja ein Lustspiel.

Und? Ist dieser Sonderling von Offizier nicht übertrieben ehrpusselig, ist das überhaupt ein ernst zu nehmender Konflikt, und was hat das Ganze mit uns zu tun? "Die Ehre ist - die Ehre": Minnas bei Lessing witzig gemeinte Tautologie spricht Minna Wündrich in Andreas Kriegenburgs Inszenierung überraschend ernst aus, als hätte der Satz einen bedenkenswerten Kern. Sie foppt ihren Tellheim nicht einfach (obwohl auch das seinen Charme hätte), sondern demonstriert eine Wertschätzung, die über Ironie hinausgeht. Was auch immer es mit der Offiziersehre auf sich haben mag, darum geht es hier gar nicht. Zur Debatte steht vielmehr eine Partnerschaft, eine Liebe, die dem anderen auf Augenhöhe begegnet und sich dessen Konflikte zunächst zu eigen macht, wie versponnen sie sich auch ausnehmen mögen.

Der Klassiker ist modern, er plädiert für Augenhöhe zwischen Mann und Frau

Was das Geschlechterverhältnis betrifft, ist Lessing seiner Zeit um ein paar Jahrhunderte voraus. Denn wenn es zutrifft, was Tellheim meint und Minna ausspricht, dass nämlich nur Gleichheit (im Glück oder im Unglück) die Basis der geglückten Liebe sein kann, dann gilt das in beide Richtungen. Also nicht nur der Mann darf von der Frau nicht abhängig sein, sondern umgekehrt auch die Frau nicht vom Mann. Um das ihrem Tellheim begreiflich zu machen, gaukelt Minna ihm eine Enterbungsgeschichte vor, mit der sie den Spieß umdreht und ihn auf ein paar Umwegen zur Räson bringt. Moderner geht es nicht. Man muss den Lessing-Text nicht "korrigieren", man muss ihn nur genau lesen, seine Thesen begreifen und auf die Zwischentöne achten.

Da Andreas Kriegenburg ein schlauer Regisseur ist, nimmt er die Moll-Töne ernst, ohne dabei die Komik zu vernachlässigen. Hochkomisch sind nicht nur die Auftritte des spillerigen, verknöcherten Wirts (Thomas Wittmann), des impulsiven Bedienten Just (Jonas Friedrich Leonhardi) oder des "gewesenen Wachtmeisters" Werner (Florian Lange), der sein Herz nun wahrhaftig auf dem rechten Fleck hat. Hochkomisch ist vor allem das Zusammenspiel von Minna und ihrem Mädchen Franziska, die in einer herzlichen Komplizenschaft so agieren, wie man sie selten auf einer Bühne erlebt hat. Die fragilen Männerbündnisse, die man in dem Stück ja ebenfalls mit einem gewissen Wohlwollen zur Kenntnis nimmt, nehmen sich recht schwächlich aus verglichen mit dem Bündnis zweier kluger Frauen, die zwar nicht gesellschaftlich auf derselben Ebene stehen, sich aber so benehmen. Minna Wündrich als Minna flüchtet dabei immer wieder an den Rettungshaken der reinen Vernunft, während Lea Ruckpaul als Franziska sich einem förmlich explosiven Übermut anheimgibt und der Reihe ihrer modernen Frauenrollen ein weiteres Bravourstück hinzufügt.

Wolfgang Michalek hat es als Major von Tellheim in dieser Opposition nicht leicht. Er hat Statur, schon physisch, er kämpft, nicht aus Selbstmitleid oder Narzissmus, sondern aus Gründen, die man nach und nach besser begreift; am Ende, wenn er das "Lachen des Menschenhasses" (Minna) überwindet, wird der Mann immer sympathischer. Man versteht auch die Unbehaustheit, die Verlorenheit, die er empfindet - in Kriegenburgs Bühnenbild, das den Berliner Gasthof, in dem das Stück spielt, beiseiteräumt und durch eine chaotische Landschaft aus übereinandergetürmten, dabei allerdings warm beleuchteten Stühlen ersetzt. Hier ist ein Theaterabend gelungen, der eine Reise nach Düsseldorf lohnt.

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