Man wollte einen Thriller lesen und landet, immerhin für die ersten vierzig Seiten, in einem Kriegsroman: Vietnam 1952, Algerien 1957. Zwischen die drastischen Kampfszenen eingestreut sind martialische Verlautbarungen der späteren Präsidenten Mitterrand und Pompidou. Von den französischen Kolonialkriegen der Mitte des 20. Jahrhunderts gelangen wir bruchlos in die Sechzigerjahre, genauer nach Wollaing im unwirtlichen Norden des Landes, wo die filmnotorischen Sch'tis mit ihrer lustigen Sprache und ihren exzentrischen Gebräuchen zu Hause sind.
In Emmanuel Grands Krimi "Späte Vergeltung" kommen sie allerdings nur am Rande vor, denn hier geht es um Ernstes. Der Ex-Soldat und gnadenlose Killer Edouard Vanderbeken, genannt "Douve", seit dem Algerienkrieg Mitglied der staatsfeindlichen Untergrundarmee OAS, heuert 1964 als Personalchef eines großen Industrie-Unternehmens in Wollaing an, um dessen Boss mit allen Mitteln gegen die kommunistischen Gewerkschaften und insbesondere deren arabische Mitglieder zur Seite zu stehen.
Blutige Taten sind die unausweichliche Folge, doch kommen sie hier erst im Laufe der folgenden 400 Seiten zu Tage, die das inzwischen heruntergekommene, von Drogenkriminalität gezeichneten Wollaing des Jahres 2015 vor Augen führen. Mord und Totschlag herrschen auch hier. Zunächst aber scheinen kriminelle Geldverleiher, die ihren Klienten beim Eintreiben der Schulden wenig zimperlich zu Leibe rücken, für die erste Leiche des Romans verantwortlich zu sein. Ein langer, gewundener Erzählweg schließt die Gegenwart mit dem fünfzig Jahre zurückliegenden innerfranzösischen Bürgerkrieg zusammen.
Das Kommissars-Duo, die junge, attraktive Araberin Saliha Bouazem und der wegen seiner eigenwilligen Ermittlungsmethoden berüchtigte Elsässer Erik Buchmeyer, wird ebenfalls durch längere Exkurse in Vergangenheit und Privatleben eingeführt. Auch die Bewohner Wollaings nehmen durch Schwenks von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück Kontur an. Dies gilt vor allem für den Arzt Antoine Vanderbeken, Sohn des in den frühen Achtzigerjahren augenscheinlich durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Douve: ein freundlicher Melancholiker, von dem man bis fast ans Ende des Romans nicht weiß, was ihn eigentlich aus der Bahn geworfen hat.
Mehrere Morde ereignen sich in immer schnellerer Abfolge, und nur dem Kommissar Buchmeyer ist - man versteht leider nicht genau, warum - schnell klar, dass sie mit der kriegerischen Vergangenheit einiger der Kleinstadt-Bewohner zu tun haben. Er und Bouazem ermitteln konsequent auf getrennten Wegen, bis sie endlich beide auf dieselbe Lösung stoßen, die sich, zumindest für den Leser, als einigermaßen abenteuerlich erweist.
Emmanuel Grand hat sich mit diesem Projekt, das die tödlichen Nachwirkungen einer verdrängten Vergangenheit in der Gegenwart nachweisen soll, entschieden verhoben. Er erzählt mäandernd, ohne dramaturgische Balance, die Sprache hat oft Schwierigkeiten, mit dem Aufklärungsvorhaben des Autors Schritt zu halten.
Oder liegt's am Übersetzer, der in Gewaltszenen gelegentlich in groteske Überdrehungen verfällt, und dem etwa die schlichte Vokabel "beide" fremd ist ("die zwei Ufer")? Der Verlag steuert auf dem rückwärtigen Umschlag schließlich noch eine eigene Entgleisung bei: "Grand erinnert an Fred Vargas". Irreführender als dieser Verweis auf die herausragende französische Krimi-Autorin und ihre somnambul versponnenen, im Aufklärungsvorgang aber turbulent zupackenden, das Genre zugleich feinsinnig ironisierenden Romane kann eine Leser-Information nicht sein.