Süddeutsche Zeitung

Genderdebatte:Warum überhaupt Geschlechter?

Im Pass kann neben weiblich und männlich jetzt auch divers stehen. Eine historische Chance, Genderungen als natürliche Zuschreibungen ganz sein zu lassen - ganz ohne Gesetze. Respektvolle Sprache genügt.

Gastbeitrag von Lann Hornscheidt

Schon lange gibt es empowernde Selbstbenennungen von Menschen, die sich nicht in Zweigendernormen wiederfinden, Begriffe wie Inter*, trans*, genderqueer, genderfluid, ex-gender. All diese Menschen kämpfen seit Jahren um eine staatliche Anerkennung und kritisieren die gewaltvollen Normen von Zweigeschlechtlichkeit. Die gerade beschlossene gesetzliche Regelung, neben weiblich und männlich den Eintrag divers in den Personenstandsdokumenten zu ermöglichen, ist ein erster großer Schritt - insbesondere in einer Gesellschaft, deren Vorstellungen von Geschlecht sich einerseits rasant verändern, andererseits jedoch in Bezug auf die Normsetzung, dass es zwei Geschlechter gibt, immer noch erstaunlich stabil bleiben.

Innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit gab es in den letzten 30 Jahren immens große Modifikationen von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepten. Dazu gehören auch wichtige Sprachdiskussionen, etwa darüber, was innerhalb heteronormativer Vorstellungswelten ein Kompliment sei, was lustig, höflich, flirtend ist und was eine sexistische Bemerkung. Nicht zuletzt die "Me Too"-Debatte zeigt, wie heute viele Verhaltensweisen als Sexismus kritisiert werden, die früher ignoriert oder kleingeredet worden sind. Das führt - natürlich - zu großen Verunsicherungen eigener Genderbilder. Leider werden diese Verunsicherungen aber nur selten als Chance zur Selbstreflexion des eigenen Verhaltens benutzt, sondern münden stattdessen häufig in Abwehrreaktionen wie Aggression, Wut oder Ignoranz. Dies äußert sich gerade auch immer wieder in Diskussionen zu Sprachfragen: Was ist noch sagbar, was ist witzig, was ist diskriminierend? Derlei Fragen sind schon innerhalb des angenommenen Rahmens von Zweigeschlechtlichkeit komplex. Nun aber werden sie um eine weitere Dimension ergänzt: Ist es überhaupt noch möglich, von Frauen und Männern zu reden, oder ist dies bereits ausschließend?

Denn nicht nur innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit gibt es Veränderungen von Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen, sei es in Bezug auf Rollen, Aussehensnormen oder Sexualität. Darüber hinaus ist auch die Frage, ob es zwei oder mehr Geschlechter gibt, im öffentlichen Diskurs angekommen. Die Möglichkeit des Eintrags "divers" in den Reisepass hat weitreichende Konsequenzen für eine Reihe von Sozial- und Sprachpraktiken - und somit auch für soziale Vorstellungen und Realitäten. Braucht es nun neue öffentliche Toiletten, Duschen und Umkleiden in Sporträumen? Braucht es neue Antidiskriminierungsrichtlinien, Förderpreise, Statistiken? Wie können Menschen in Mails, auf Formularen, bei Veranstaltungen angesprochen werden, wenn Phrasen wie "Sehr geehrte Damen und Herren" nicht mehr ausreichen, um die gesetzlich verankerte Anerkennung von Menschen, die sich nicht als Frauen oder Männer verstehen, Rechnung zu tragen - um respektvoll zu sein und nicht Menschen auszuschließen und damit zu diskriminieren? Wollen wir in einer solchen Anrede eine weitere Form einfügen, oder können diese Anreden vielleicht grundlegender überdacht werden? Sprachliche Handlungen sind schließlich ein Schlüssel für eine respektvolle, offene Gesellschaft.

In vielen Ländern, die schon länger einen dritten Geschlechtseintrag ermöglichen und dadurch Zweigeschlechtlichkeit als Norm aufgelöst haben, gibt es Beispiele dafür, wie veränderte Sprachkonventionen zu neuen Gender-Wahrnehmungen führen können. In Schweden wurde in der dritten Person Singular neben den bestehenden Formen "sie" (hon) und "er" (han) ein neues Pronomen eingeführt: hen. Dieses Pronomen hat sich schnell etabliert, weil es ermöglicht, sich auf eine Person zu beziehen, ohne dieser eines von zwei Geschlechtern zuzuschreiben. In Neuseeland ist nach der Einführung eines offiziellen dritten Geschlechts neben den Anreden "Ms" für Frauen und "Mr" für Männer die Form "Mx" für Personen, die sich non-binär und jenseits von Weiblichkeit und Männlichkeit verstehen, schnell im Sprachgebrauch übernommen worden. In Kanada und England wurde das im Mittelenglischen bereits als Singularpronomen gebräuchliche "they" wieder eingeführt und wird mündlich und schriftlich als genderlose Form benutzt. In Indien gibt es neben Frauen und Männern offiziell Hijars und bei den Native Americans "Two-Spirit"-Personen.

Deutsche Sprachkonventionen sind im Moment noch recht binär orientiert - was auch ein sprachlicher Ausdruck davon ist, wie wirkmächtig eine dichotome Geschlechterordnung innerhalb der Gesellschaft ist. Politische Gruppen, die sich nicht als weiblich oder männlich verorten, probieren lange schon neue Ausdrucksweisen aus. Im Deutschen bedarf es dabei nicht nur der Einführung neuer Anreden für eine dritte, "diverse" Gendergruppe, sondern auch neuer Pronomina und letztendlich einer Veränderung von grammatikalischen Normen, die Genderzuschreibungen und grammatikalisches Genus in eins setzen. Ex-gendernde Formen, die Gender ganz aufgeben wollen, wie etwa "dex Lesex" brechen nicht nur mit Binarität, sondern auch mit einem grammatikalischen System, das nur feminine, maskuline und neutrale Formen kennt. Die Herausforderungen sind also auch sprachlich gesehen groß - so groß, wie es die soziale Veränderung ist, das System der Zweigeschlechtlichkeit aufzulösen und zu erweitern. Solche wichtigen Veränderungen verlaufen nicht reibungslos und einfach, sondern bedürfen einer Offenheit zu Selbstreflexion und Respekt.

Was sind denn eigentlich Frauen und Männer, wenn alle anderen "divers" sind? Sind nicht alle Personen "divers" in Bezug auf ihre vergeschlechtlichte Selbst- und Fremdeinlesung? Und wäre es nicht eine Chance, diesen historischen Moment zu nutzen, noch mal darüber nachzudenken, warum überhaupt Geschlecht eine so zentrale Kategorie menschlicher Wahrnehmung sein muss? Könnte es nicht auch stigmatisierend sein, Genderzuschreibungen immer weiter auszudifferenzieren? Warum sind sie überhaupt notwendig? Könnte mensch nicht die neue gesetzliche Regelung zum Anlass nehmen, Genderungen als natürliche Zuschreibungen ganz sein zu lassen - wie es übrigens vom Bundesverfassungsgericht als eine Option vorgeschlagen worden ist.

Wie wäre es, statt von Lesern und Leserinnen, LeserInnen und Leser*innen von "Personen, die lesen" zu sprechen? Menschen würden so über ihre Handlungen charakterisiert und nicht über die durch Diskriminierungsstrukturen überhaupt erst geschaffenen Zuschreibungen von Geschlecht, rassifizierten Kategorien, Religion und anderem. Was für eine Erleichterung wäre dies - nicht nur für Personen, die sich nicht als weiblich oder männlich verstehen, sondern für die gesamte Gesellschaft: Genderzuschreibungen und -anrufungen loszulassen und Menschen primär als Menschen wahrzunehmen. Statt über Geschlecht zu sprechen, wäre es dann möglich, über Diskriminierungsstrukturen an den Stellen zu sprechen, wo es um strukturelle Gewalt geht. Innovative sprachliche Handlungen könnten hier ein wichtiger Baustein sein. Das Schöne ist, dass jede Person dies in jedem Moment machen kann. Wir müssen nicht auf neue Gesetze, Regeln, Normen warten - sprachlich respektvoll zu handeln und neue Ausdrucksweisen auszuprobieren, sind Möglichkeiten, die wir alle kontinuierlich haben, wollen wir an einer diskriminierungsfreieren Gesellschaft mitarbeiten. Sprache bietet uns eine Chance dazu, in jedem Moment.

Lann Hornscheidt hatte zahlreiche (Gast-)Professuren in Europa zu Gender und Sprache inne. Im März 2019 erscheint "Exit Gender. Gender loslassen und Genderismus benennen" (Lann Hornscheidt und Lio Oppenländer im Verlag w_orten & meer).

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Quelle:
SZ vom 21.12.2018
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