Guck mal, die Kreuzkirche brennt ... Das tat sie zwar nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, aber hier ausnahmsweise zu Friedenszeiten: Weder Preußen noch Briten hatten ihre Hände im Spiel. Und wer sich je gefragt hat, wie es kam, dass der Kreuzchor, den es seit dem Mittelalter gibt, das "Jauchzet, frohlocket" in seiner Stammkirche heute an die (beim nächsten Brand) ausgerußten Decken eines Jugendstil-Saales schmettert: Der muss sich dieses Foto von 1897 anschauen, als der Bau in Flammen stand, der seinerseits denjenigen ersetzte, den der Vedutenmaler Bernardo Bellotto noch geschildert hatte, den sie in Dresden auch Canaletto nennen.
Bellotto hatte für seine Gemälde bekanntlich Vorformen der Fotokamera zu Hilfe genommen. Die ersten Fotografen, die im 19. Jahrhundert die Stadt in den Blick nahmen, orientierten sich im Gegenzug an dem, was Bellotto gemalt hatte, den barocken Postkartenmotiven der schönen Stadt. Kein Wunder, dass ihre Bilder oft wie gemalt wirken.
Dass "das Malerische" als ästhetische Kategorie so richtig erst ausformuliert wurde, als ein Bild genauso gut oder besser auch mit dem Fotoapparat aufgenommen werden konnte, ist das eine. Dass es beide, Maler wie Fotografen, so oft mit Dresden und seiner Umgebung hatten, das andere.
Der Münchner Verleger Lothar Schirmer hatte schon in den Achtzigerjahren einen Band über den Fotografen August Kotzsch herausgebracht, der einst seine Aufnahmen aus den Winzerdörfern am Elbhang als Vorlagen für Idyllenmaler bis in die USA geliefert hatte. Das Buch, das von den Dresdner Spezialisten Ernst Hirsch und Matz Griebel sowie Kotzschs Enkelsohn Volkmar Herre recherchiert wurde und auch in der DDR herauskam, gilt vor Ort bis heute als so epochal und geradezu leitbildartig wie sonst nur noch Fritz Löfflers "Altes Dresden".
Dreieinhalb Jahrzehnte später legt Schirmers Verlag nun mit "Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts" einen Nachfolgeband vor, mit knapper Einführung durch Andreas Krase, den Foto-Kustos an den Technischen Sammlungen, und vor allem: eine atemberaubende Menge wirklich hinreißender Fotos aus den Jahren zwischen 1850 und 1916: Der komplette Weg von der beschaulichen Residenzstadt zur Halbmillionenmetropole mit Schornsteinpanorama. Oder, in Malerei gesprochen: Von den Romantikern bis zum Industrievorstadt-seligen Expressionismus der "Brücke". Oft ist auch Hochwasser, dann schwimmen die Mietshäuser wie melancholische Schiffe durch die Straßen, und bei jedem zweiten Kind denkt man, es wär der kleine Erich Kästner.
Manchmal sind die Fotografen berühmt, so wie Hermann Krone oder eben August Kotzsch, meistens kennt man ihre Namen nicht, dafür aber die Orte: Im industriellen Reick hebt ein Ballon ab und bringt den Mann mit der Kamera vor Aufregung ganz aus dem Gleichgewicht. Auf der Vogelwiese an der Elbe ist der Rummel aufgebaut - und schon damals geht es den jungen Leuten dort augenscheinlich nicht nur ums gemeinsame Karussellfahren. Hinterm alten Dorfkern von Plauen donnert ein Güterzug vorüber, ein neuartiges Automobil wartet, von den Dörflern bestaunt, an der Schranke, und vor der Frauenkirche gucken die Altvorderen noch voller Neugier in den Apparat. Man kann sie förmlich hören, wie sie sich in warmem Dialekt nach technischen Einzelheiten erkundigen. Viele sind ja "selber vom Fach", wie man hier gern so sagt, und schrauben mit spitzen Fleißfingern in den Kamerawerken im Osten der Stadt herum.
Man muss auch sagen: Sie sehen aus, als hätten sie sich fein gemacht, bevor sie ihre schöne, malerische Altstadt betreten. Heute ist die ja leider oft nicht immer so ansehnlich, und zwar nicht nur, wenn wie einst am Markttag grimmige Ländler in die Stadt kommen, die sich zum Demonstrieren in Deutschlandfahnen wickeln. Auch die, die dort meinen, sie flanierten, haben das Kleinod zuletzt leider oft zu einem Laufsteg von Trekkingkleidung im Winter und Dreiviertelhosen im Sommer gemacht, den man gerade als Eingeborener an dieser Stelle vielleicht einmal ganz ästhetizistisch benasrümpfen darf. Denn wenn man erst einmal so tief in der Nostalgie von Photographien mit großem Ph badet wie in diesem Prachtband, dann will man am Ende am liebsten auch, dass Reifröcke und Vatermörder wieder verpflichtend werden, zumindest für alle anderen.
Andreas Krase: Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts. Schirmer Mosel, München 2020. 312 Seiten, 49,80 Euro