"Dresden. Die zweite Zeit":Rückkehr in die Fremde

Kurt Drawert erkundet eine zerrissene Stadt, das Schreiben und einen in sich verkapselten Narzissmus. Sein autobiografischer Bericht ist ein großes Dokument des Ringens ums Verstehen.

Von Jörg Magenau

"Dresden. Die zweite Zeit": Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert Kurt Drawert sehr genau. Dresden, Straße der Befreiung, 1986.

Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert Kurt Drawert sehr genau. Dresden, Straße der Befreiung, 1986.

(Foto: imago stock&people)

Es gibt kein einziges Bild von der Familie. Jedenfalls nicht im Besitz des Erzählers, der sich mal in Kafka-Tradition als "K." abkürzt, mal "Karl" nennt. Das ist aber auch schon die einzige Differenz zum Autor Kurt Drawert, der allerdings nicht einfach ein Ich abbildet, sondern genau weiß, dass der, der da "ich" sagt, im Text und aus dem Schreiben heraus entsteht. Wer schreibt denn überhaupt?, fragt er, immer wieder aufs Neue überrascht, was die Sprache ihm alles erlaubt.

Er besitzt Bilder von der Mutter allein, von sich zusammen mit dem Vater, von den Brüdern André und Ludwig, doch die Familie als Ganzes zeigte sich noch nicht einmal bei seiner Hochzeit mit 18, die ja auch vor allem dazu diente, dieser DDR-Familie zu entrinnen. Meistens fehlte die Mutter, weil sie es nicht aushielt, oder weil sie putzen musste, sodass Kurt Drawert den Zusammenhang der Familie und des DDR-Staates, für den die Familie stand und der in die Familie hineinwirkte, jetzt im Nachhinein rekonstruieren muss.

Mit seinem Prosadebüt "Spiegelland" hat er 1992 schon einmal ähnliches unternommen. Damals ging es hauptsächlich um den Vater, Polizeikommissar und Parteigänger der SED, und um die väterliche Gewalt. "Dresden. Die zweite Zeit" ist eine späte Antwort, Weiterführung, Revision dieser zornigen Abrechnung des damals 37-Jährigen, und auch wenn das neue Buch der Mutter gewidmet ist, steht erneut der Vater im Mittelpunkt.

Der Autor, Jahrgang 1956, wuchs in Dresden auf, erfuhr die Gewalt der DDR am eigenen Leib

Jetzt aber gibt es zum repressiven Staatscharakter noch eine zweite, traurige Nach-Wende-Figur: der Vater als alter, müder Mann, der sich mit sudetendeutschen Landsmannschaften und Militaria befasst und an dem nichts mehr an den stramm uniformierten Kommunisten erinnert, der er bis 1989 gewesen ist. Er wird auch bald dement und stirbt. Mitleid muss man mit ihm nicht haben, vermutlich ist der geistige Verfall die konsequente Weiterführung der früheren Engstirnigkeit. Von der Sprachlosigkeit des Vaters hat sich der Sohn denkbar weit entfernt, indem er sich für ein Dasein in der Sprache und ein Leben als Schriftsteller entschieden hat. Auch davon erzählt er nun.

Es gehört nicht unbedingt zum originellsten Genre, wenn Schriftsteller ihren Stipendienaufenthalt zum Gegenstand ihres nächsten Buches machen. Bei Kurt Drawert ist das anders. 2017 nahm er das Angebot an, Stadtschreiber von Dresden zu werden, obwohl ihm die damit verbundenen Verpflichtungen - Interviews, freundliche Artikel und Elbspaziergänge im Abendlicht für die Lokalpresse - zutiefst zuwider waren und es Beklemmungsgefühle in ihm auslöste, welche Kollegen vor ihm die Stadtschreiberwohnung bewohnt und im selben Bett geschlafen haben. Das Körperliche - Gerüche, Geräusche, Sichtverhältnisse - spielt überhaupt in allen Büchern Drawerts ein große Rolle. Er ist ein Schüler Lacans, der die Welt mit dem Leib erkundet. Weil ihm das Stadtschreiberamt nun aber Gelegenheit bot, nach 50 Jahren in die Stadt zurückzukehren, in der er 1967, zwölf Jahre alt, mit seiner Familie angekommen war und wo er die 70er- und 80er-Jahre verbracht hatte und weil seine alte Mutter noch dort lebte, nahm er an.

"Dresden. Die zweite Zeit" ist ein essayistischer, autobiografisch-erzählerischer Bericht. Er handelt von einer Rückkehr in die Fremde. Er verknüpft auf eindrucksvolle Weise die eigene Biografie mit der Geschichte und Gegenwart der DDR, was über die Figur des Vaters sowieso zusammenfällt. Doch auch die Mutter mit ihrem Putzwahn und der tief verinnerlichten allgemeinen Pflicht, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen, hat ihren Anteil daran. Auf diesem Boden, wo das Historische sich in den eigenen Leib eingeschrieben hat, konfrontiert Drawert sich mit der politischen Bizarrerie der Montagsdemonstrationen, Pegida und AfD, und versucht zu begreifen, was fünfzigjährige Frauen dazu bringt, sich mit der Sachsenfahne zu schmücken und "Fotze Merkel!" zu brüllen.

Drawert, der Lacan, Marx, Julia Kristeva, Zygmunt Bauman, Annie Ernaux und vor allem sein eigenes Buch "Spiegelland" im Gepäck hat, ist viel zu schlau, um sich mit einfachen Einsichten zu begnügen. Eine der möglichen Antworten besteht jedoch darin, dass das große Nein zur Gegenwart, das auf den Straßen so voller Hass zelebriert wird, ein verschobenes, nachträgliches Nein des einst versäumten Nein zur DDR sein könnte. Oder er wundert sich darüber, warum die Kunstaktion des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, der zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens 2017 zwei zerstörte Busse aus Aleppo aufstellte, so viel Empörung hervorrief, weil damit angeblich das Gedenken an die Opfer Dresdens entwürdigt und entweiht werde. Warum gibt es in Dresden einen Monopolanspruch auf Schmerz? Warum wurde Dresden zum Synonym der Zerstörung und nicht Hamburg, Nürnberg oder Darmstadt? Warum kann die Stadt ihre Trauer nicht mit der Welt teilen? Drawert erkennt in den Affekten von rechts außen einen in sich verkapselten Narzissmus, der das kleine Eigene so herrlich findet, dass alles Fremde nur feindlich sein kann.

Das Großartige an dieser erzählerischen Reflexion besteht jedoch darin, dass er selbst als Fremd-Zugehöriger nicht bloß von außen spricht, als der Westler, zu dem er geworden sein mag, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind.

Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert er sehr genau, weil er ihre Gewalt am eigenen Leib erfahren hat - über den Vater und die Familie ebenso wie über die Schule und die Fabrikarbeit, zu der er einst degradiert worden ist. Was Drawert über den Fabrikalltag der DDR berichtet, lässt von den Romantizismen über die Arbeiterklasse und ihr Selbstbewusstsein nichts übrig. Da wurden ihm einmal nur so zum Spaß die langen Haare angezündet, ein Weiheritual, eine Taufe. Wenig später kam ein Kollege ums Leben, dem ein anderer von hinten den Pressluftschlauch an den Hintern hielt.

Ergreifend auch die Geschichte des Bruders Ludwig, der "wie durch einen Fluch belastet alles Unglück dieser Welt auf sich und seinen Körper zog". Schon zu DDR-Zeiten ein Außenseiter, der auf die Sonderschule abgeschoben wurde, bekam er nach der Wende überhaupt nichts mehr auf die Reihe, taumelte von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten Arbeitslosigkeit, bis er früh starb. Ein dramatischer Höhepunkt ist der Tag, an dem er noch als Kind beim Spiel im Aufzugschacht des Elternhauses mit einem Bein zwischen Wand und Aufzug geriet, vor Schmerz schreiend zwischen den Stockwerken stecken blieb und von der Feuerwehr befreit werden musste.

Das Buch wird mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes und der Schuld

Es gibt viele blutige, demütigende Geschichten in diesem Buch, das mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes und der Schuld wird. Alles war schuldbehaftet in der DDR, alles zielte auf die Vernichtung der Person, und schon die Ankunft in Dresden glich einer Flucht, nachdem "Karl" im Brandenburgischen Hohen Neuendorf, wo die Familie zuvor lebte, beim Nazi-und-Partisan-Spiel einem Freund mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen, ihm aber verboten hatte, zu verraten, wer es war. Seither lebte er in der Angst, es könnte herauskommen. Noch in Dresden sah er den Vater des Freundes, einen strengen Schulleiter, an jeder Ecke auf sich zukommen.

Es ist mehr als bloß symptomatisch, dass der Stadtschreiber dann beim Kuchenkaufen für den Mutterbesuch auf Blitzeis ausrutscht, sich die Schultersehnen reißt und von da an auch körperlich ein Schmerzensmann ist, der kaum noch die Kaffeetasse zum Mund führen kann, aber trotzdem weiter schreibt und denkt. Es scheint so, als schärfe sich sein Denken am und im Schmerz, sodass er den Schmerz kultiviert und kapitellang zögert, ob er die Operation wagen soll oder nicht - eine Operation, die dann, als er sie endlich durchführen lässt, schiefgeht, als läge darin eine tiefere Absicht.

"Dresden. Die zweite Zeit" ist ein Buch über den Zusammenhang von Körper und Sprache und Geschichte, ein gewaltiges, großes Dokument eines ums Verstehen ringenden Blicks auf die eigene Zerrissenheit und die der Stadt und des immer noch geteilten Landes.

Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2020. 294 Seiten, 22 Euro.

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