Der Gleichgewichtssinn gilt im Zeitalter des Superheldenstaus in Hollywood eigentlich nicht als heroische Begabung. Dass einer geradeaus laufen kann und die Leute deshalb ein Kinoticket kaufen? Eine wenig verbreitete ökonomische Formel. Trotzdem hat der Regisseur Robert Zemeckis nun einen opulenten, schwindelerregenden Spielfilm genau darüber gedreht - über einen Mann, der geradeaus laufen kann und muss.
In "The Walk" erzählt er die wahnsinnige, aber wahre Geschichte des französischen Artisten Philippe Petit, der mit Hilfe einiger Freunde 1974 nachts heimlich ins neu gebaute World Trade Center einstieg, ein Stahlseil zwischen die Twin Towers spannte und am frühen Morgen des 7. August mehrmals zwischen den Türmen hin und her balancierte - mit der Eleganz eines neugierigen Spaziergängers. Zum Schluss legte er sich sogar für ein paar Minuten rücklings auf sein Seil und schaute sich die vorüberziehenden Wolken an.
Nun ist in der Biografie der Twin Towers jener 7. August vom 11. September 2001 brutal verdrängt worden. Nicht zuletzt, weil Petits Performance eher kümmerlich, die 9/11-Attacken umso üppiger dokumentiert sind.
Regisseur Zemeckis, der spätestens seit "Forrest Gump" zu den großen amerikanischen Kinochronisten gehört, wollte mit der modernen Digitaltechnik den Bildern vom Einsturz seine Bilder von der Geburtsstunde des World Trade Center entgegenstellen. Die New Yorker lehnten das monströse Gebäude in Lower Manhattan mit gerümpfter Nase ab - bis Petit es mit seinem zauberhaften Auftritt quasi einweihte, ihm etwas Märchenhaftes und Menschliches verlieh.
Mehrfach durch den popkulturellen Fleischwolf gedreht
Der spektakuläre Coup des Franzosen ist schon mehrfach durch den popkulturellen Fleischwolf gedreht worden. Es gibt ein hübsches Kinderbilderbuch, außerdem Petits Autobiografie, die jetzt auch die erzählerische Grundlage für "The Walk" ist. Und natürlich die oscarprämierte Dokumentation "Man On Wire", in der Regisseur James Marsh 2008 Petits Aktion mit viel Archivmaterial und ein bisschen Reenactment als Thriller-Doku aufbereitete.
Was all diese Werke nicht leisten konnten: den Zuschauer wirklich mit aufs Seil steigen zu lassen - 110 Stockwerke über der Erde.
Die überwältigende Erotik dieses schwindelerregenden Spaziergangs nachvollziehbar zu machen ist die irre Leistung der Macher von "The Walk". Zu zeigen, wie Petit zuerst den linken Fuß auf das Stahlseil stellt, dann den rechten nachzieht; wie er, ganz behutsam, die ersten Schritte tut. Und wie dann unter seinen Füßen, in der Morgensonne von Manhattan, die Wolkendecke aufreißt und einen atemberaubenden Blick auf jenes legendäre New York der Siebziger preisgibt, das längst wie ein sagenumwobenes Atlantis untergegangen ist und nun komplett digital wieder aufersteht - eine unglaubliche Schau.
All die kleinlichen Nachweltfragen - war das Happening Kunst, Leichtsinn, Ruhmsucht oder alles auf einmal? - verfliegen in diesen aufwendig rekonstruierten Momenten der puren Gegenwart. Es macht in diesem Film, und das fällt dem schwer 3-D-genervten Kritiker nicht ganz leicht zu schreiben, ausnahmsweise sogar die 3-D-Technik einen Sinn.
"The Walk" beginnt als leicht ironische Märchenerzählung, inklusive Märchenonkel mit französischem Akzent: Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt) steht auf der Freiheitsstatue, im Hintergrund die New Yorker Skyline, und führt von dort aus als comichafter Erzähler durch seine eigene Geschichte.
Die beginnt in Paris, wo Petit sich als charmanter und schelmischer Straßenkünstler mit Einrad, Seilnummer und Jonglierkünsten durchschlägt. Und weil Robert Zemeckis einer der letzten Romantiker des ansonsten so überdrehten US-Kinos ist, nimmt er sich für diese Lebensphase eine Menge Zeit.
Er erzählt, wie Klein-Philippe im Zirkus das Artistenleben für sich entdeckt, wie er an einen grummeligen Artisten (Ben Kingsley) gerät, der ihn in die Geheimnisse der Hochseilkunst einweiht, und wie er seine Freundin und Komplizin Annie (Charlotte Le Bon) kennenlernt. Eine Straßenmusikerin, die Leonard Cohens "Suzanne" für ihr Pariser Publikum auf Französisch intoniert. Ein melancholischer Rückblick aufs alte, Truffaut'sche Paris, das dem manischen Höhenfreak Philippe bald nicht mehr reicht.
Die Türme - halb zur Geliebten, halb zur Nemesis stilisiert
Nachdem er in einer ersten Großaktion sein Seil zwischen die Türme von Notre Dame gespannt hat, liest er in einer Zeitschrift, dass in New York ein Gebäude entstehen soll, höher als der Eiffelturm. Das World Trade Center ist noch nicht mal in die New Yorker Skyline betoniert, da hat er schon beschlossen: Zwischen diesen Türmen will ich laufen, muss ich laufen, koste es, was es wolle - dieser Seilkünstler ist ein astreiner Maniker.
Extremsportler in Norwegen:Alle für den Kick
Sie raften, sie stürzen sich Klippen hinunter - und spielen mit den Elementen. Jeden Juni treffen sich im ansonsten verschlafenen Voss in Norwegen Extremsportler aus aller Welt - mit ein bisschen zu viel Energie. Was die Unerschrockenen vorführen, können Touristen in harmloser Form buchen.
Deshalb ist die Liebesgeschichte zwischen Philippe und Annie, die Zemeckis behutsam sich entfalten lässt, ein gemeines romantisches Ablenkungsmanöver, weil Philippe fremdgehen wird. Die eigentliche Liebesgeschichte ist die zwischen einem Mann und seinem Gebäude, das er für seinen ultimativen Stunt benötigt. Die Türme werden halb zur Geliebten und halb zur Nemesis stilisiert in Petits Leben, und auch in Zemeckis' Film, der die Kamera an ihnen so zärtlich wie ehrfurchtsvoll entlanggleiten lässt.
Überhaupt ist "The Walk" vor allem eine digitale Raumerkundung und Ortsbegehung. Gedreht wurde praktisch nur im Studio, das alte Paris, das alte New York und seine Turm-Träume wurden erst hinterher im Computer eingesetzt. Das eindrucksvolle Pixel-Geschachere hat dazu geführt, dass auf den Werbeplakaten zu "The Walk" das World Trade Center plötzlich nicht mehr in Downtown, sondern in Midtown steht - diese Grafiken haben den PR-Leuten des Films offensichtlich noch besser gefallen. Der Film selber ist aber eine sehr akkurate, liebevolle Ode an die Nähe des Kinos zur Architektur, die beide mit äußeren Formen von inneren Zuständen erzählen - so wie es keine andere Kunstform vermag.
The Walk , USA 2015 - Regie: Robert Zemeckis. Buch: Christopher Browne, Robert Zemeckis. Kamera: Dariusz Wolski. Mit: Joseph Gordon-Levitt, Charlotte Le Bon, Ben Kingsley. Sony, 123 Minuten.