Dr. Dre-Album "Compton":Politik statt Pussy

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Hip-Hop-Legende Dr. Dre (Foto: Keystone/dpa)

Auf seinem dritten und letzten Album vereint Hip-Hop-Legende Dr. Dre Zeitgeist und Nostalgie. Doch viel spannender als seine Musik ist die Zeitenwende in der Vermarktung von Pop, für die "Compton" steht.

Von Julian Dörr

Das war jetzt also das große Finale. Erst einmal durchatmen. Nach ziemlich genau einer Stunde fällt die Last von 16 Jahren Wartezeit endlich von einem ab. 16 Jahre - oder zwei bis drei Künstlerleben in Popjahren - ist es her, dass Rapper und Produzent Andre Romelle Young alias Dr. Dre sein letztes Album veröffentlicht hat. 1999 war das, die Platte hieß "2001" und sicherte dem Gangster-Rap-Pionier die Stellung im Rap-Game des neuen Jahrtausends.

Und dann kam lange nichts mehr. Dr. Dre, der mit seiner Crew N.W.A. und seiner Tätigkeit als Produzent für Snoop Dogg, Tupac und Eminem den Hip-Hop der neunziger Jahre geprägt hatte, konzentrierte sich auf seine Rolle als Unternehmer. Mit den Kopfhörern seiner Firma Beats schuf Dre einen neuen Fetisch der großstädtischen Gegenwart, nach dem Verkauf an Apple feierte er sich als erster Milliardär des Rap. Ein drittes Album, das den Namen "Detox" tragen sollte, war lange angekündigt, genügte jedoch nie den Qualitätsansprüchen des Soundtüftlers Dre.

Auf "Compton" gelingt Dr. Dre ein kleines Kunststück

Am vergangenen Samstag dann kam die Überraschung. Dr. Dre kündigte "Compton" an, sein drittes und letztes Album. Die Arbeit am N.W.A.-Biopic "Straight Outta Compton", das Ende August in den Kinos startet, sei so inspirierend gewesen, dass er kurzerhand eine neue Platte aufgenommen habe. Die ist nun seit Freitag zu hören, exklusiv beim neuen Arbeitgeber Apple. Und auf "Compton" gelingt Dr. Dre ein kleines Kunststück: Er schafft es, Zeitgeist und Nostalgie miteinander zu vereinen.

Seit den wilden Zeiten von N.W.A. war keine seiner Platten mehr so politisch. Dr. Dres Beats pulsieren mit dem Herzschlag unserer Gegenwart. Ein zweites "Fuck tha Police" findet sich auf "Compton" natürlich nicht, das wäre zu einfach. Die Welt ist seit 1988 subtiler geworden. 2015 geht es um Politik statt Pussy. Fälle wie die von Michael Brown und Eric Garner gehen an einem Land nicht spurlos vorbei. Allgegenwärtig auf "Compton" ist die Gewalt, an jeder Songbiegung wartet ein Abgrund. Durch das trippige "Genocide" hallt der Ausruf "Murder!", Gaststar Kendrick Lamar, der wie Dr. Dre aus Compton stammt, hetzt in einer Strophe durch die Hoffnungslosigkeit des Problemvororts von Los Angeles.

Kein Adjektiv beschreibt "Compton" besser als: cineastisch

Compton war immer zugleich Muse und Fluchtpunkt im Werk des Dr. Dre. Sein drittes Album ist auch eine Hommage an die Straßen seiner Jugend, die er und N.W.A. damals Ende der Achtziger mit dem Höllensturm ihres Debüts "Straight Outta Compton" hinter sich gelassen hatten. Der gute Dre ist nun auch schon 50 Jahre alt, kein Wunder also, dass ein Film über N.W.A. ihn nostalgisch stimmt. Auf "Compton" kommen deshalb auch alte Weggefährten zu Wort. Ice Cube rollt wie ein Panzer durch das mächtige "Issues" und der 1995 verstorbene Eazy-E meldet sich in "Darkside/Gone" sogar aus dem Jenseits zurück.

Kein Adjektiv beschreibt "Compton" besser als: cineastisch. Und dass nicht nur, weil das Album direkt vom Film "Straight Outta Compton" inspiriert wurde. Dr. Dres Produzentenstil hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr dem eines Filmkomponisten angenähert. Er baut Atmosphäre auf, spielt mit Spannungsbögen, erzählt Geschichten. Auch ohne die Texte wirkt Dr. Dres Musik plastisch und unmittelbar. Hört man "Loose Cannons" mit Gastrapper Xzibit, wähnt man sich in einem Amoklauf aus GTA.

Die spannende Frage ist nicht, wie relevant Dr. Dre noch ist

"Compton" funktioniert - dank seiner breitwandigen Produktion und dank der illustren Gastauftritte. Um die offensichtliche Frage haben wir uns aber bisher erfolgreich gedrückt: Dr. Dre braucht den Hip-Hop, aber braucht der Hip-Hop heute noch Dr. Dre? Diesem Rätsel ging der Rapper und Produzent schon 1999 auf seinem zweiten Album "2001" nach. Für alle Zweifler schrieb er damals "Forgot about Dre" und die Antwort lautete: Ja, der Hip-Hop braucht Dr. Dre.

An diesem Selbstverständnis hat sich in den vergangenen 16 Jahren nichts geändert: "I'm very aware hip-hop needed something to carry it", rappt Dr. Dre in "Genocide". Doch viel spannender als die Frage, wie relevant Dr. Dre im Jahr 2015 noch sein kann, ist die Frage, wie er seine Relevanz konstruiert.

Da ist die bekannte Seite der Geschichte: Dr. Dre als Königsmacher und Mäzen des Hip-Hop. 1992 präsentierte er auf seinem Solo-Debüt "The Chronic" der Welt den wenig bekannten Rapper Snoop Dogg. Auch Eminem, 50 Cent und Kendrick Lamar verdanken ihren Erfolg zum Teil dem Steigbügel Dr. Dre. Er prägte das Musikbusiness - direkt oder indirekt. "Compton" schlägt nun ein völlig neues Kapitel der Popgeschichte auf. Das finale Album von Dr. Dre ist der erste große Coup von Apples Weltradio Beats 1, ein medial inszeniertes Großereignis.

Der Deal von Apple und U2 wirkt im Vergleich wie eine Nebelkerze

Ein kurzer Abriss der vergangenen Woche: Am Samstag kündigt Dr. Dre "Compton" in seiner eigenen Radioshow "The Pharmacy" auf Beats 1 an, am Freitagmorgen vergisst Apple für drei Stunden seine puritanische Prüderie und streamt das Album unzensiert vor Veröffentlichung, gefolgt von einer Sondersendung auf Beats 1 mit Radio-DJ Zane Lowe. Was bei U2 und ihren kostenlos verteilten "Songs of Innocence" wie ein Nebelkerze wirkte, hat Apple mit Dr. Dre perfektioniert.

Das Überraschungsalbum war der Modus Operandi des Pop im Jahr 2015. Mit "Compton" hat dieses Vermarktungskonzept seinen Höhepunkt erreicht. Bei Apple liegt nun alles in einer Hand. Von der exklusiven Distribution via iTunes und dem neuen Streaming-Dienst Apple Music bis zur journalistischen Aufarbeitung im hauseigenen Radio. Niemand sonst kann einem Künstler heute ein solches Rundum-sorglos-Paket bieten. Die Spielregeln im Pop haben sich einmal mehr geändert. Bleibt abzuwarten, wie die Konkurrenz reagiert. Drei Großkaliber des Hip-Hop stehen in diesem Jahr noch aus: Frank Ocean, Drake und Kanye West.

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