Süddeutsche Zeitung

Bücher des Monats:Muttersöhnchen und Mythos

Lesezeit: 4 min

Douglas Stuarts ergreifendes Debüt, eine Begegnung zwischen Marx, Wagner und Nietzsche sowie Krautrock-Pioniere in "Future Sounds": Das sind die Bücher des Monats.

Von SZ-Autoren

Douglas Stuart: Shuggie Bain

Im postindustriellen Glasgow der Achtzigerjahre hinterlassen die Wirtschaftsreformen Margaret Thatchers sichtbare Spuren: hohe Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Depression und eine ansteigende Suizidrate führen ganze Stadtviertel in einen hoffnungslosen Alltag. In dieser Zeit wächst Shuggie Bain als Kind des Taxifahrers "Big Shug" Bain auf, der Shuggies Mutter Agnes in Bösartigkeit begegnet und schließlich verlässt. Sie verfällt der Alkoholsucht, die fortan auch das Leben des heranwachsenden Shuggie bestimmt. In der familiären Abwärtsspirale gefangen, kümmert sich der sensible Junge aufopferungsvoll um Agnes, erträgt ihre Launen und den betäubenden Alltag, lernt das Elend der Armut im harten Arbeitermilieu kennen. Eine tragische Liebesgeschichte einer ambivalenten Mutter-Sohn-Beziehung, die zart und bedrückend, ergreifend und schmerzlich zugleich ist. Ein durch und durch starker berührender Debütroman, der das Schöne im Hässlichen aufzeigt.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Felix Stephan.

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche

Über das einzelne Wirken der drei großen Denker des 19. Jahrhunderts, Marx, Wagner und Nietzsche, wurde schon viel Geistreiches auf Papier gebracht. In dem Buch von Herfried Münkler werden Leben und Werk der drei höchst unterschiedlichen Figuren nun in eine spannende Beziehung gesetzt. In der Gesamtbetrachtung des Dreigestirns führt dieser scharfsinnige und gelehrte Diskurs die vielfältigen Widersprüche und Kontraste der jeweiligen Weltanschauung klar vor Augen. Marx und Wagner erlebten beide das Scheitern der deutschen Revolution 1848/49 und sahen doch ganz unterschiedliche Wege, die Gesellschaftsordnung ihrer Zeit zu überwinden. Nietzsches Schaffen ist geprägt von den Wirrungen seiner Zeit: den Einigungskriegen und die Reichsgründung 1871. Anhand von ausgewählten Ereignissen und Problemstellungen zeigt das Buch so eine interessante geistig-politische Gegenüberstellung, die eine ideenhistorisch wertvolle Betrachtung eröffnet.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Johan Schloemann.

Fridolin Schley: Die Verteidigung

Richard von Weizsäcker, späterer Bundespräsident, assistierte der Verteidigung seines Vaters Ernst von Weizsäcker in den Nürnberger Nachfolgeprozessen. Als Mitglied der SS, hoher Diplomat und Staatssekretär in der Zeit des NS-Regimes wollte Ernst von Weizsäcker, so verteidigte er sich, aus dem Inneren des Systems heraus verdeckten Widerstand leisten, um den Kriegsausbruch zu verhindern. Der Roman, der aus dem heutigen Wissensstand zu der NS-Zeit und den Prozessen heraus erzählt, bedient sich einer wechselnden Perspektive zwischen Nähe zu den Handelnden im Gerichtssaal und Distanz durch einen essayistischen Ton. Fridolin Schley beleuchtet in dem Roman das alte Deutschland und die neu entstehende Bundesrepublik und wirft, ohne zu moralisieren, Fragen der Schuld, des Widerstands und der Verpflichtung auf.

Lesen Sie hier ein Interview von Marie Schmidt mit Fridolin Schley.

Christoph Dallach: Future Sounds

Für sein Buch belebt der Musikjournalist Christoph Dallach das Genre der Oral History, in dem ausschließlich die Interviewpartner zu Wort kommen. Der in immer neuen Generationen wiederentdeckte und gewürdigte Krautrock als elektrifizierte Musikform, die Neuerfindung von Jazz und Improvisation, ist Mittelpunkt der historisch-gesellschaftlichen Betrachtung. Dabei erzählen Musiker, die durch ihren Hippierock die Popwelt revolutionierten, nicht von biografischen oder historischen Neuheiten, sondern von interessanten Deutungen in ihrer jeweiligen Lebensgeschichte. Neben den Interviewten berichten Veranstalter, Plattenfirmen und Journalisten der frühen Siebziger über diese ganz eigene progressive Szene, deren Wesen auch im Verdrängen und Umlenken der Vergangenheit bestand. Ein unterhaltsamer, reflektierter und zukunftsgewandter Einblick in einen avantgardegeprägten Musikstil.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Diedrich Diederichsen.

C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Während der Pionierjahre des US-amerikanischen Westens, die vom Goldrausch und der Opiumkrise geprägt waren, kamen erste Migranten aus China in das Land. In dem Roman "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" erzählt C Pam Zhang von der Flucht der Schwestern Sam und Lucy, von Hunger getrieben, durch das Hügelland Nordkaliforniens im 19. Jahrhundert. Der Familienlegende nach suchten ihre Eltern einst ihr Glück im einsetzenden Goldrausch der amerikanischen Westküste. Als eine Art Restitutionsakt zeichnet C Pam Zhang eine fiktive Geschichte chinesischer Immigranten, die sich der in asiatisch-amerikanischen Familien endemischen "Mythologisierung der Zukunft" entgegenstellen. Die Trauer als zentrales Thema des Buches weitet sie als zeitgemäße Betrachtung auf die Zerstörung der Umwelt durch kapitalistische Modernisierung aus. Der Roman entwirft so ein gegenwärtiges Bild einer ästhetischen Utopie anhand von Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Samir Sellami.

Neumärker, Tuchel: Der 20. Juli 1944 im "Führerhauptquartier Wolfschanze"

Viel ist schon geschrieben worden über das Attentat von Claus Graf Schenk von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Erstaunlicherweise gibt es aber bisher nur wenige gut dokumentierte Darstellungen über das ostpreußische Führerhauptquartier "Wolfschanze". Die Historiker Uwe Neumärker und Johannes Tuchel haben nun Abhilfe geschaffen. Sie führen einerseits ein in die hermetische Welt der Betonburgen und Befehlsstrukturen in diesem Waldgebiet bei Rastenburg, wo 2000 Menschen den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion steuern sollten, und haben andererseits die dramatischen Tage im Juli 1944 mit großer Sorgfalt anhand von Primärquellen und Augenzeugenberichten ausgewertet und zahlreiche neue Details ans Licht geholt. Durch die dichte Rekonstruktion fühlt sich der Leser in unmittelbare Nähe zu den Ereignissen gerückt.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Knud von Harbou.

Dollbaum, Lallouet, Noble: Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft

Wer ist Alexej Nawalny? Der Oppositionspolitiker hat in den vergangenen Monaten oft die Schlagzeilen dominiert, erst der Giftanschlag, dann die Rettung in der Berliner Charité, nun die Haftstrafe nach seiner Rückkehr nach Russland. Doch was außer seiner Gegnerschaft zu Wladimir Putin macht den Mann aus? Die drei Politikwissenschaftler Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble haben versucht, Nawalny in all seiner Widersprüchlichkeit zu ergründen. Das Buch ist keine Biografie, die drei haben Nawalny nicht getroffen und kennen seine wahren Beweggründe nicht. Trotzdem lässt sich einiges lernen über russische Politik, warum man dort ein Liberaler sein und gleichzeitig nationalistische Äußerungen tun kann oder warum man mehr Demokratie fordern kann und seine eigene Bewegung trotzdem recht autoritär führt. Eine Analyse über das Schlachtfeld von Nawalny-Fans und Nawalny-Gegnern.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Silke Bigalke.

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