Julia Wissert:Die Neue

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Julia Wissert, geboren 1984 in Freiburg, ist die erste Schwarze, die ein deutsches Stadttheater leitet. (Foto: Birgit Hupfeld/Birgit Hupfeld)

Julia Wissert, 36, ist im Sommer als Intendantin des Dortmunder Schauspiels angetreten. Über einen Start unter erschwerten Bedingungen.

Von Alexander Menden

Julia Wissert leitet seit diesem Sommer das Dortmunder Schauspiel. Es gibt einiges, was diese Intendanz zu etwas Besonderem macht. Die 36-Jährige ist nicht nur eine der jüngsten Intendantinnen, die es in Deutschland je gegeben hat, sie ist auch die erste schwarze Frau, die eine solche Stelle innehat.

Sie wurde in Freiburg geboren und wuchs am Kaiserstuhl auf als Älteste von vier Töchtern. Nach dem Abitur lebte sie in Sydney, London und Salzburg, wo sie sowohl auf als auch hinter der Bühne arbeitete.

Sie machte Regieassistenzen in Freiburg, Oldenburg und Basel, studierte Regie am Mozarteum in Salzburg und "Media Arts and Drama" an der University of Surrey in London. Später inszenierte sie in Hannover, Bochum und am Berliner Maxim-Gorki-Theater.

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Das Schauspiel Dortmund, das immer ein wenig im Schatten des Ruhrgebietsschwergewichts Bochum steht, hat Julia Wissert nun von Kay Voges übernommen, der hier mit seiner Betonung des Digitalen und der Gründung einer Akademie für Theater und Digitalität ein besonderes Profil schuf. Beste Voraussetzungen für einen wegweisenden neuen Abschnitt, nicht nur in Dortmund, sondern im deutschsprachigen Theater überhaupt. "Es gibt keinen besseren Ort für eine erste Intendanz als Dortmund", sagt sie.

Das Gespräch findet in einem Nebenraum des Foyers statt. Mit einnehmender Begeisterung erzählt Wissert von Menschen, die sie in der Fußgängerzone begrüßt hätten, und von einem Mitdemonstranten bei der "Black Lives Matter"-Demo, der auf sie gedeutet habe mit den Worten: "Das ist sie, die Nachfolgerin von Kay. Ich bin traurig, aber ich freue mich trotzdem." Einmal sei sie essen gewesen und habe ihr Geld vergessen: "Ich sage, ich gehe schnell und hole welches, ich lasse Ihnen meinen Führerschein da. Und der Mann meint: Frau Wissert, bitte! Man hat mir erzählt, wer Sie sind. Kommen Sie einfach irgendwann vorbei. Und ich denke: Alter, das ist hier wirklich ..."

Sie lässt den Satz offen ausklingen, fügt allerdings an, dass es sich anders anfühle als in ihrer Geburtsstadt Freiburg. Dort werde ihre Mutter, die seit 40 Jahren dort lebe, von manchen noch immer als Zugereiste betrachtet, die "irgendwann doch noch mal zurück ins Saarland zieht".

Womöglich hilft es, dass in Dortmund, wo ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, die Sprechtheaterintendantin mal nicht 60 Jahre alt ist, ein Mann und weiß. "Dadurch", glaubt sie selbst, "verschwimmen die Grenzen, wo das Publikum vielleicht sonst Hierarchien konstruieren würde." All das ändert allerdings nichts daran, dass Julia Wisserts Job mitten in einer Pandemie begonnen hat.

Ihre sommerliche Antrittsinszenierung "2170 - Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?" war ein Stationendrama "in fünf Texten und vielen Schritten", das notgedrungen auch auf den Straßen der Stadt gespielt wurde.

Es folgte Goethes "Faust", eine Inszenierung, die Wissert zu Ende führte, nachdem die Regisseurin Mizgin Bilmen erkrankte (nein, nicht an Corona). Die Premiere war kurz vor dem November-Lockdown. Bei der Hauptprobe zwei Tage davor sitzt eine Gruppe Lehrer mit Gesichtsmasken im Zuschauerraum.

"Faust" ist unverwüstlicher Schulstoff. Irgendwann, wenn das wieder möglich ist, werden sie mit ihren Klassen ins Theater kommen. Zu erleben ist eine strenge, verschlankte, durchaus stimmige Lesart des Klassikers. Fünf Schauspieler umkreisen einander auf einer Drehbühne wie gleichgepolte Magnete. Die coronabedingte Distanz erzeugt eine anhaltende Spannung zwischen Linus Ebners neurotischem Faust und Antje Prusts mal statuesk überlegenem, mal neckischem Mephisto. Könnte ein Erfolg werden.

Seit dieser Saison ist Wissert Intendantin am Schauspiel Dortmund . Wie alle Theater ist das Haus derzeit coronabedingt geschlossen. Immerhin hatte vor dem Lockdown noch "Faust" Premiere. (Foto: Lisa Bunse/Lisa Bunse)

Aber jetzt ist erst einmal wieder Zwangspause. Die erneute Schließung ist für Julia Wissert ein harter Schlag: "Wir machen das hier ja nicht, weil wir in einem dunklen Raum Prinzessin spielen wollen, sondern weil wir Energie austauschen und Impulse geben und Welten bauen wollen."

Das Theater, für das Julia Wissert steht, ist performativ, interdisziplinär, offen für Diversität und die verschiedensten Genres und Formen. Das britische Theater ist für Wissert ein wichtiger Referenzpunkt - vor allem, weil dort das colourblind casting, die Besetzung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, schon lange selbstverständlich ist. "Wir sagen immer noch: Du stellst dich in diesen Kasten, und ich glaube dir, dass du der Geist eines toten Königs bist. Aber gleichzeitig glaube ich nicht, dass du der Bruder von jemandem bist, der eine andere Hautfarbe hat? Da klebt so ein seltsamer Essentialismus dran, den ich nicht verstehe", sagt sie.

Was die Intendantin indes sehr wohl versteht, ist, dass die Pandemie momentan die drängendste Herausforderung darstellt, ganz allgemein, aber eben auch an ihre Kunstsparte. "Corona dringt in mich ein, in meinen Körper, aber eben auch in meine Psyche", sagt sie. "Deshalb hoffe ich, dass nie der Moment kommt, in dem wir den Sinn dafür verlieren, was es bedeutet, Berührung, Energie und den Atem anderer Menschen spüren zu können." Online gestreamte Aufführungen sind jedenfalls nicht die Antwort, das ist ihr klar. Seine ganze Stärke kann das Theater nur dann ausspielen, wenn es ein kollektives Erlebnis gibt, einschließlich der Möglichkeit, zu scheitern.

Noch ein Besuch in Dortmund. Der "Lockdown light" prägt jetzt den Alltag des Schauspiels. Es wird weiter geprobt, momentan steht eine Doppelproduktion einer Bühnenfassung von Virginia Woolfs "Mrs Dalloway" und Sarah Kanes "Psychose 4.48" auf dem Plan. Julia Wissert hat sich in dem kleinen Mehrzwecksaal neben dem Foyer eingefunden. Sie wirkt weder entmutigt noch besonders sorgenerfüllt. Die beiden "Faust"-Aufführungen vor der Schließung seien sehr gut gelaufen, berichtet sie, alle Zuschauer seien "wahnsinnig wohlwollend" gewesen.

Und hausintern? Alle seien "fragiler, achtsam und zart" miteinander, sagt Wichert. "Es findet eben keine Psychohygiene statt, indem man abends in die Kneipe geht und über die Intendantin herzieht und am nächsten Tag wieder zur Arbeit kommt." Unter diesen Umständen ein Stück wie Kanes Suizid-Drama zu spielen, verlange dem Ensemble einiges ab.

Vor allem aber hat der Shutdown das Projekt der Verwurzelung in der Stadt unterbrochen, an dem der neuen Intendantin so viel liegt. Am Anfang sei sie kreuz und quer durch Dortmund gefahren: "Ich habe mich mit Institutionen in Verbindung gesetzt und war bei vielen Veranstaltungen, um klarzumachen: Wir sind euer Theater. Jetzt können wir uns erst mal gar nicht mehr begegnen."

Sie betont, dass die Stadt sich seit Pandemiebeginn "klar positiv zu diesem Haus positioniert" habe

Trotz dieser Härten erweist sich Wissert besonnener und realistischer als manche Kollegen, die angesichts längerer Spielzeitunterbrechungen Begriffe des Kalibers "Katastrophe" auffahren. Sie betont, dass die Stadt sich seit Pandemiebeginn "klar positiv zu diesem Haus positioniert" habe. (Tatsächlich sehen die kommunalen Wirtschaftspläne für das Theater und die übrigen Dortmunder Kulturbetriebe für 2021 keinerlei Einsparungen vor.) Wisserts Pragmatismus speist sich aber auch aus einer Fähigkeit, über den Rand der eigenen Branche hinauszublicken: "Meine Mutter ist Krankenschwester, meine beste Freundin ist Kinderintensivmedizinerin. Wenn ich mir anhöre, was die erzählen, dann bringt das doch eine gewisse Perspektive in das Ganze."

Natürlich hofft sie, möglichst bald das tun zu können, wozu sie eigentlich angetreten ist: eine stärkere Einbeziehung des Publikums, die Befreiung der Sparte von ihrem oft elitären Ruf, "den Versuch einer Öffnung hin zu einem anderen Theater". Nach außen hin wirke es momentan so, "als ob wir nichts mehr machen, als ob wir in Ferien gegangen sind". Tatsächlich aber bedeute der Lockdown mehr Arbeit - umplanen, neu planen, Kommunikation mit Presse, Stadt, Schulen.

Intern die Motivation und die Freude am Arbeiten zu erhalten, das wird eine der Herausforderungen sein. Man hat das Gefühl, dass Julia Wissert ihr gewachsen ist. Die andere Herausforderung formuliert sie so: "Jetzt kommen erst mal kalte, einsame Monate auf uns zu. Wir wollen aufs Publikum zugehen und ihm sagen: Du bist nicht alleine alleine. Wir sind zusammen alleine."

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