Süddeutsche Zeitung

Referendum in der Türkei:Wenn der türkische Pass erst weg ist, hören auch die Albträume auf

Warum der Schriftsteller Moritz Rinke versuchte, noch vor dem Referendum in der Türkei den zweiten Pass seines Sohnes loszuwerden. Und wie er dabei scheiterte.

Gastbeitrag von Moritz Rinke

Seit Wochen habe ich Albträume. Keine Ungeheuer, keine Kannibalen, auch kein freier Fall in die Tiefe, sondern eine Passkontrolle in der Türkei mit anschließender Verhaftung meines zweijährigen Sohnes, der danach in Isolationshaft verwahrt und vom türkischen Staatspräsidenten, noch vor Anklage des Gerichts, als Putschist, als Fethullah-Gülen-Anhänger oder als PKK-Mitglied oder kurdischer Spion vorverurteilt wird.

Mein Sohn hat einen deutschen und einen türkischen Pass. Mein Sohn lebt in Deutschland, hat einen Schriftsteller als Vater, der schon den einen oder anderen kritischen Text über die türkische Regierung verfasst hat. Mein Sohn hat eine türkische Mutter, die nachweislich nicht die Regierungspartei wählt, im Gegenteil, sie demonstriert gegen sie. Mein Sohn hat Großeltern in Antalya und einen Cousin in Ankara. Und seine regierungskritische Mutter will unbedingt am 16. April, am Tag des Referendums, in die Türkei reisen, der Cousin feiert seinen fünften Geburtstag, und gegen die Zusammenführung türkischer Familien ist kein Kraut gewachsen. Nicht mal dieses schreckliche Referendum.

Ich gehe. Ich kann es nicht. Er soll es selbst entscheiden, wenn er groß ist

Als der Cousin meines Sohnes ein Jahr alt wurde, war die Türkei im Aufbruch. Junge Türken protestierten im Gezi-Park in Istanbul, erst für den Erhalt von Bäumen, die der damalige Ministerpräsident einem Einkaufszentrum opfern wollte, dann gegen dessen autoritäre Regierung, wochenlang, Hunderttausende, es war ein türkischer Frühling. Am zweiten Geburtstag waren wir wieder in der Türkei. Der Gezi-Protest war längst niedergeschlagen, der Ministerpräsident und einige seiner Minister in Korruptionsskandale verwickelt. Angeblich musste der Sohn des Regierungschefs Millionen Dollar in Schuhkartons aus seiner Wohnung tragen.

Ein Jahr später feierten wir etwas verspätet in Antalya. Der Krieg gegen die Kurden hatte wieder begonnen, nachdem der Regierungschef, der mittlerweile Präsident geworden war, die Mehrheit für die Regierungspartei AKP bei den Parlamentswahlen an die prokurdische HDP verloren und Neuwahlen ausgerufen hatte. Vom Strand aus sahen wir manchmal die Militärflugzeuge Richtung Osten fliegen. Der vierte Geburtstag war der friedlichste, drei Monate vor dem Putsch, der alles noch viel schlimmer werden ließ.

Und zum fünften Geburtstag reist mein Sohn nun in eine Türkei, die am nächsten Tag eine andere Verfassung haben könnte. Keine des demokratischen, laizistischen Rechtsstaats mehr, die ja immerhin noch auf dem Papier existiert, sondern eine mit präsidialem Regierungssystem, das die Abschaffung des Ministerrats und die Überführung von dessen Befugnissen auf den Präsidenten vorsieht. Auch die Aufgaben der Exekutive sollen auf den Präsidenten übergehen. Zwölf der fünfzehn Verfassungsrichter würde der Präsident bestimmen. Er hätte mehr Macht als Donald Trump und François Hollande zusammen. Und ein Amtsenthebungsverfahren würde es nicht mehr geben können. Der Präsident könnte so lange Präsident sein, wie er will, bis er irgendwann einmal stirbt.

Deniz Yücel ist verhaftet worden, weil er auch so einen türkischen Pass zu viel hat

Warum sollte so einer nicht einen Zweijährigen mit deutsch-türkischem Pass festnehmen? Nahm Trump nicht kürzlich einen Fünfjährigen fest? In der irrsinnigen Logik dieses türkischen Präsidenten und vor allem in der unbewussten Logik meiner Albträume macht das alles Sinn.

Vor ein paar Tagen stehe ich vor dem türkischen Generalkonsulat in Berlin, den türkischen Pass meines Sohnes in der Hand. Eine einfache Plastikkarte, etwa so groß wie eine Spielkarte. Wenn ich sie abgebe, sage ich mir, hören die Träume auf. Der deutsche Journalist Deniz Yücel ist verhaftet worden, weil er auch so einen türkischen Pass zu viel hat, und jetzt sitzt er in Isolationshaft, gib also den Pass einfach ab! Ich stehe vor der Sicherheitskontrolle, und mir gehen die Bilder der Geburt meines Sohnes durch den Kopf. In Antalya, an einem sonnigen, warmen Tag im November. Ich war vorher noch schwimmen, dann fuhr ich mit meiner Frau ins Krankenhaus durch diesen verrückten Verkehr, den ich so mag, weil er so improvisiert dahinfließt, wir hörten ausgerechnet Brahms.

Die Schwiegermutter saß hinten, ihr Mann kam direkt von der Farm ins Krankenhaus, wo er noch Auberginen am Morgen geerntet hatte. Eine riesige Farm mit Avocados, Nüssen, Zitronen, die mein Sohn irgendwann einmal erben soll. Nach der Geburt kam die ganze Verwandtschaft angereist, aus Ankara, Istanbul, Izmir. Es gab traditionell Lohusa Serbeti, ein süßliches Getränk aus rotem Zucker. Umarmungen, Küsse, Reden, viele Rakis. Ich hatte eine neue Familie, und es war der schönste, aufregendste Tag in meinem Leben.

Ich stehe immer noch vor der Sicherheitskontrolle. Wie kann ich da jetzt hineingehen? Wie kann ich das geliebte Land meiner Frau und meines Sohnes einfach so im Konsulat abgeben? Ich sehe die Großeltern meines Sohnes vor mir: Unser Land ist ihm doch nicht gut genug, er hat uns vom geliebten Enkel getrennt! Er hält unser Land für nicht lebenswert, er hat uns aufgegeben, er hat sein Herz mit im Konsulat abgegeben.

Ich drehe vor der Sicherheitskontrolle um, ich gehe. Ich kann es nicht. Er soll das selbst entscheiden, wenn er groß ist. Im Auto zur Kita stelle ich mir vor, dass ich jetzt dem deutschen Außenminister über alle Details der Einreise meines Sohnes im Voraus berichten muss, vielleicht kann er dann auch einen konsularischen Zugang zu meinem Sohn erwirken wie bei dem Journalisten Deniz Yücel.

Als ich meinen Sohn in der Kita spielen sehe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich denke, dass ich ihm aus meinen irrationalen Ängsten heraus fast ein Stück Identität weggenommen hätte. Er bekommt auf dem Rückweg ein Eis. Zu Hause hält meine Frau einen Brief in der Hand. "Woher wissen die, wo ich wohne?", fragt sie mit irritierter Stimme, es war schon der zweite Brief der Regierungspartei AKP mit der Empfehlung, beim Referendum mit "Evet", mit "Ja", zu stimmen.

In einem türkischen Lebensmittelgeschäft in Berlin hatte ich meine Frau zwei Tage vorher in einer kleinen Diskussion erlebt. "Wisst ihr denn, was das für eine Wahl ist?", fragte sie zwei Türken, die sich gegenseitig versichert hatten, "Tayyip Erdoğan" zu wählen. "Ihr müsst nicht Erdoğan wählen, er ist schon gewählt", sagte sie. "Ihr sollt darüber abstimmen, ob ihr eine Verfassung haben wollt, die es eurem Präsidenten erlaubt, fast alles ohne Parlament zu entscheiden." Der eine trat direkt vor sie und sagte, sie solle sofort leise sprechen. "Wieso?", fragte sie. Wenn sie so spreche, müsse sie leise sprechen, sagte er. Sie wisse doch, was mit Leuten passiert, die so sprechen würden wie sie. Ich war von diesem kleinen Dialog in Charlottenburg so befremdet, dass ich kaum noch die Einkaufstüten halten konnte.

Meine Wohnung ist zum Schlachtfeld des Präsidenten geworden

Am Abend sitzt meine Frau wieder vor ihrem Facebook-Account. Es scheint fast wie eine Sucht, sich die immer noch schlimmeren Bilder von Festnahmen und gebrüllten Reden aus der Heimat anzusehen. Ich kann die Nachrichtenstimmen von Claus Kleber oder Caren Miosga aus meinem Fernseher gar nicht mehr hören, sie werden übertönt von der Stimme Erdoğans, seinen kurzen, kräftigen Sätzen, die durch die Wohnung dröhnen. Dazwischen immer wieder Schreie von Menschen, die gewaltsam von Polizisten abgeführt werden, dann wieder die alles verdammende Stimme des Präsidenten.

Ja, ich habe auch alle Nazivergleiche auf Türkisch gehört.

Meine Wohnung, in der ich vor der Heirat allein gewohnt habe, ist zum Schlachtfeld des Präsidenten geworden. Manchmal denke ich, er würde aus dem iPad meiner Frau mich oder meinen Fernseher anbrüllen, in dem die Nachrichtenstimmen verstummen und sich deutsche Politiker vor dem nächsten Angriff und hinter dem traurigen Flüchtlingsabkommen mit der Türkei verschanzen. Am nächsten Tag lasse ich meinen Sohn in der Kita zurück und fahre wieder ins Konsulat. Diesmal muss ich es schaffen. Die Türkei hat zu viel Macht über mich bekommen, diesmal gebe ich den Pass meines Sohnes ab!

Ich habe die Sicherheitskontrollen passiert, eine Wartenummer gezogen. Im Konsulat stehen Extratische mit Wahlhelfern, die den Auslandstürken bei der Stimmabgabe für das Referendum zur Seite stehen, die Stimmzettel werden dann nach Ankara zur Auszählung geflogen. Die Stimmzettel sind zweifarbig. Weiß und braun. Auf der weißen Seite steht "Evet" (Ja), auf der braunen "Hayır" (Nein). Ein Wahlhelfer der rechtsextrem-nationalistischen MHP mit Wolfsringen an den Fingern erklärt einer Frau den Wahlvorgang. Sie müsse auf dem Stimmzettel zum Beispiel das weiße Feld mit "Evet" abstempeln, dann den Zettel in den grünen Umschlag stecken, und fertig.

Nein, nein, denke ich, so ein unberechenbares Land musst du jetzt abgeben

Ein Wahlhelfer der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP fragt, warum er der Frau die Stimmabgabe denn mit dem weißen Feld erkläre, theoretisch ginge es doch auch andersherum? Er habe ja "zum Beispiel!" gesagt, erhebt der MHP-Wahlhelfer seine Stimme. Es ist sofort wieder dieser feindliche Ton, wie aus dem iPad meiner Frau. Auch sie hat hier vor ein paar Tagen ihre Stimme abgegeben und bemerkt, dass man auf dem braunen Feld des Stimmzettels den Stempel mit der Aufschrift "Tercih" (Meine Meinung) irgendwie nicht so gut sieht.

Da geht's ja schon los, sage ich. Den Stempel mit "Nein" auf der braunen Seite wird man in Ankara schlecht erkennen, vermutlich fällt dann auch noch zufällig das Licht aus, und plötzlich sind alle diese Stimmen ungültig. Nein, nein, denke ich, so ein unberechenbares Land musst du jetzt abgeben, der Pass muss weg, es ist besser. Und es ist auch ganz bestimmt besser, am Tag des Referendums als Nur-Deutscher einzureisen!

Ich bin schon fast im Sprechzimmer, als ich mich frage, ob man bei der Passkontrolle in der Türkei nicht im Computer sehen wird, dass der türkische Pass meines Sohnes gerade erst vor Tagen abgegeben worden ist? Das wird doch alles übermittelt? Und dann? Was sollen dann die türkischen Grenzpolizisten denken? Da ist also jemand, der nicht mehr Türke sein will? Aber er will dennoch in die Türkei einreisen? Mit einer Mutter, die ja wohl entschieden hat, den türkischen Pass ihres Sohnes abzugeben? Und die trotzdem noch schnell in die Türkei einreisen will, um mit "Nein" zu stimmen, obwohl ihr zweimal ein ganz klarer Aufruf der Regierung nach Charlottenburg geschickt wurde?

In der unbewussten Logik meiner Albträume blinkt plötzlich ein rotes Licht im Computer auf. Vermutlich wird der Präsident persönlich aus dem Computer des Grenzpolizisten schreien, sobald die Pässe meiner Familie eingelesen sind. Die rote Leuchte steht auf jeden Fall für Festnahme. Ich drücke einer Frau mit drei schreienden Kindern meine Wartenummer in die Hand und gehe, den türkischen Pass meines Sohnes halte ich fest in der Hand.

Ich sehe ihn noch ein paar Tage und hole ihn von der Kita ab. Er bekommt jeden Tag ein Eis. Der Außenminister ist über alles informiert.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, lebt als Dramatiker und Autor von Romanen, Essays, Glossen und Reportagen in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Band "Erinnerungen an die Gegenwart" (2014) im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

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Quelle:
SZ vom 12.04.2017
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