Süddeutsche Zeitung

Dopingsünder und Finanzjongleure:Unsere Besten

Lesezeit: 5 min

Immer das Maximale rausholen: Dopingsünder und Finanzjongleure treffen sich auf dem Verschiebebahnhof der Verantwortung - sie alle haben zu stark an etwas geglaubt.

Jens-Christian Rabe

Seit die Finanzkrise nicht mehr als eine Krise des Vertrauens und Zutrauens in wesentliche Institutionen kapitalistischen Wirtschaftens beschrieben wird (einen solchen grundstürzenden Diskurs kann sich ein auf Stabilität geeichtes System nur eine kurze Weile leisten, wenn überhaupt) - seit die Krise also keine grundsätzliche Vertrauenskrise mehr sein darf, seitdem geht die Rede von der Verantwortungskrise herum. Nicht nur hätten Leistungsträger massenhaft unverantwortlich gehandelt, bemerkte etwa der Philosophieprofessor Dieter Thomä kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung, sie alle hätten auch keinen Sinn mehr dafür gehabt, was Verantwortung eigentlich bedeute. Nach allen Fluchten in systemische Relevanzen hat, so scheint es, eine Rückbesinnung auf das individuelle Versagen stattgefunden.

Zum Crash konnte es freilich nur kommen, so Thomä in einer zarten systemischen Wendung seiner Argumentation, weil "anonyme Marktprozesse" die Versprechen halten sollten, die einzelne Menschen einmal gegeben hatten. Auf dem "Verschiebebahnhof der Verantwortung" hätten sich die Finanzmanager zu leicht verstecken können. Gleich wie sie agierten, ihr Handeln sei für sie selbst stets folgenlos geblieben, ihr Zeitbewusstsein - ohne das kein Verantwortungsgefühl denkbar ist - dementsprechend suspendiert. Haftung und Rechenschaft schienen weitgehend delegiert zu sein an den ungreifbaren, gesichtslosen "Markt".

Schneeball-System der Schamlosigkeit

Wie passt dazu, dass das bisher einzige Gesicht, das wir von dieser Krise haben, das des Amerikaners Bernie Madoff ist, eines Betrügers, der strenggenommen mit dieser Krise nichts zu tun hat? Gar nicht. Mittels eines auf seiner gerissenen Schamlosigkeit basierenden Schneeball-Systems war es dem ehemaligen New Yorker Börsenmakler gelungen, an viele Milliarden Dollar zu gelangen, mit denen er auf dem Finanz- und Aktienmarkt jedoch nie spekulierte. Im Gegenteil: Er verwendete das Geld, das neue Kunden in seine Investmentfonds steckten, nur um direkt die exorbitanten "Rendite"-Versprechen zu erfüllen, die er früheren Anlegern gegeben hatte. Den Rest steckte er ohne Umwege in seine eigenen Taschen. Als ein Kunde im vergangenen Jahr seine Einlagen von mehreren Milliarden Dollar zurückforderte, flog alles auf.

Symptomatisch scheint die Wahl dieses Sündenbocks freilich dennoch zu sein. Immerhin lässt sich sein Vorgehen nicht nur in der notorischen Finanzwirtschaft verorten, es ist vor allem eindeutig als delinquent zu identifizieren, als glasklarer, unbezweifelbarer Betrug. Alle anderen Fälle liegen leider anders. Und deshalb endet hier auch die Erklärungskraft der Überlegungen Dieter Thomäs.

Wer ist der beste Kapitalist?

Die fahrlässige Verschiebung von Verantwortung ist bei Thomä schließlich am Ende klar als zwar vom System begünstigtes, letztlich aber doch individuelles Fehlverhalten identifiziert. Was aber, wenn am Anfang der Krise gar kein individuelles Fehlverhalten stand, sondern im Gegenteil ganz und gar systemtreuer (dabei allerdings zugleich individueller) Übermut? Was, wenn die Krise schlicht die Folge eines mehr als gewollten, also im Grunde erzwungenen Wettbewerbs darum ist, wer eben der beste Kapitalist ist? Dann ist die Gesichtslosigkeit dieser Krise nur mehr als logisch. Denn jeder Manager, den man öffentlich an den Pranger stellte, könnte nur allzu deutlich machen, dass er nichts als eine besonders konsequente Inkarnation des Gedankens einer notwendig haltlosen Profitmaximierung in der freien Marktwirtschaft ist, mit der wir schließlich alle noch immer (und aus manchen guten Gründen) prinzipiell einverstanden sind.

Anders als der Betrüger Bernie Madoff, der Mittel einbehielt, die er hätte investieren sollen, wagten sich selbst die Entwickler der spekulativsten Derivat-Geschäfte auf den Markt - und taten so, was ihre Aufgabe ist.

Lesen Sie auf Seite 2, was die Krise und die Leichtathletik-WM gemeinsam haben.

Der Logik, die hier am Werk ist, kommt man unverstellter vielleicht nur noch im Sport auf die Spur. Auf ganz ähnliche und vor allem ebenso symptomatische Weise scheint nämlich das Verantwortungsgefühl dopender Sportler suspendiert zu sein, von denen in diesen Monaten sportlicher Großereignisse wie der Tour de France, den Schwimm-Weltmeisterschaften in Rom und der aktuellen Leichtathletik-WM in Berlin wieder sehr viel die Rede ist.

Und auch in der immer wieder gestellten Frage, warum selbst überführte oder mit schwerwiegenden Indizien belastete Athleten wie Lance Armstrong, Andreas Klöden, der diesjährige Tour-Sieger Alberto Contador oder dieser und jener Schwimmer und Leichtathlet doch immer wieder antreten dürfen - auch in dieser Frage kommt man mit der individuellen Verantwortung nicht weit. Ebenso wenig trägt der Vorwurf des Betrugs. Abgesehen davon, dass Doping in den meisten Ländern keinen Straftatbestand darstellt, ist es schließlich auch so, dass dort, wo alle mit den gleichen "unfairen" Mitteln hantieren, schwerlich noch irgendwer irgendwen tatsächlich hintergeht. Der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger Jan Ullrich hat leider nach wie vor recht, wenn er sagt, er habe nie jemanden betrogen.

Der Satz hat eine entscheidende zweite Ebene. Wichtiger als das, was gesagt wird, ist das, was nicht gesagt wird oder vielmehr das, was nur indirekt anklingt. Denn wenn Ullrich behauptet, er habe nie betrogen, dann stellt sich angesichts der erdrückenden Beweise natürlich die Frage, was er nun getan habe: Doping betrieben, so wie eben alle anderen Doping betreiben, ist die naheliegenden Antwort. Und sie ist natürlich nicht ganz falsch. Sie ist aber eben auch nicht ganz richtig.

Denn so, wie man sich die extrem risikobereite Derivat-Jongleure eben weniger als Betrüger, denn als passionierte Profitmaximierer vorstellen muss, genau so muss man sich Sportler nicht als dopende Schurken oder als die vielzitierten Doping-"Sünder" vorstellen, sondern als Menschen, die sich mit Haut und Haaren der Aufgabe verschrieben haben, die besten Radfahrer, Schwimmer oder Leichtathleten zu sein. Das ist der unhintergehbare ideologische Kern des Leistungssports. Und dagegen dürfen vor allem die nichts haben, die den organisatorischen Rahmen einwenden und letztlich vom Unterhaltungspotential eines konsequent zu Ende gedachten Leistungsprinzips leben: die Sportverbände und ihre Dachinstitutionen.

Eine Organisation, der es darum geht, die besten Sportler hervorzubringen, kann nur in ganz engen Grenzen etwas dagegen haben, wenn es eben diesen Sportlern darum geht, ihre Grenzen immer weiter zu verschieben. Das ist das Dilemma des Dopings. Wenigstens so lange, wie man sich dafür entscheidet, eben diesen Verbänden die Verfolgung der sogenannten Doping-Sünder zu überlassen. Die Tatsache, dass, wie während der Schwimm-WM in Rom herauskam, von den Spitzenathleten längst nicht mehr in großem Stil Blutproben genommen werden (und nur auf diesem Weg kann das verbreitete und sehr wirksame Blutdoping entdeckt werden), ist in diesem Zusammenhang bezeichnend.

Entschuldigen sollen diese Ausführungen nichts, sie sollen auch keine Rechtfertigung für die Freigabe von Doping sein. Die Vorbildfunktion von Spitzensportlern ist viel zu groß, als dass gesundheitlich so Riskantes wie Doping leichterhand erlaubt und damit zwangsläufig vorbildhaft werden könnte. Es geht nur darum, sporttheoretische Überlegungen zu relativieren, wie sie etwa der Gießener Philosoph Martin Seel ins Spiel gebracht hat. Für Seel verrät der Doper den Sport, weil er nicht wahrhaben wolle, dass "in der möglichen positiven Erfahrung" der Grenzen seines Vermögens "der ganze Sinn der sportlichen Tätigkeit" liegt. Das Ziel des Sports sei ein allein "ästhetisches Telos", nämlich "für eine begrenzte Zeit die Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur zu genießen". Schön wäre es. Wenn es je so gewesen sein sollte, ist es sehr lange her.

Viel eher kann man an den Protagonisten der beiden, nur scheinbar weit auseinander liegenden Sphären einen so zentralen wie fatalen Wesenszug gegenwärtiger Mentalität erkennen: Konsequenz. Eine Exkommunikation findet nicht statt, weil man es eben nirgends mit vom Glauben Abgefallenen, mit Sündern zu tun hat. Im Gegenteil: Eher allzu fleißig Glaubende strapazieren die Grenzen des Sinns. Das ist der eigentliche, ungebrochen religiöse Kern der Gegenwart. Es ist schon eine Krux.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.178245
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.8.2009
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.