Netzkolumne:Sonnen- statt Weltuntergang

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Ach, wie schön: Gänse grasen auf dem Deich, während im Hintergrund die Sonne untergeht. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Nicht immer nur Negatives: Mit Kitsch gegen "Doomscrolling".

Von Michael Moorstedt

Dass die Tech-Industrie ein ganzes Füllhorn von Problemen mit ihren Produkten hat, ist oft genug benannt worden. Was zu deren Lösung getan werden kann, ist eher weniger bekannt. Geht es nach dem Center for Humane Technology, muss sich zunächst mal die Haltung derjenigen ändern, die an all der Technik arbeiten. Gründer der Organisation ist Tristan Harris, ein ehemaliger Google-Mitarbeiter, der bereits seit Jahren vor den psychischen Folgen von Social Media warnt.

Um dies anzupacken, hat sein Thinktank nun eine Art von Crashkurs für achtsame Softwareentwickler und Programmierer veröffentlicht. Ein Modul befasst sich etwa mit Aufmerksamkeitspsychologie und enthält einen "Leitfaden für menschliches Design" zur Entwicklung von Produkten, die die Zeit ihrer Nutzer respektieren. Des Weiteren sollen sich die Teilnehmer vorstellen, im Alter von 70 Jahren auf ihr Leben zurückzublicken und sich zu fragen, welchen Anteil sie an der Entwicklung der Gesellschaft gehabt hatten.

Klingt nicht arg subtil. Absolventen beschreiben die an den Kurs anschließenden Diskussionen auf Zoom trotzdem als eine Art Gruppentherapie. Geht es nach dem Willen der Anbieter, werden schon bald Tausende Ingenieure und Softwareentwickler eine neue, menschenfreundlichere Ära im Silicon Valley einläuten.

Bis es so weit ist, liegt es wohl an den Nutzern selbst, einen vernünftigen Umgang mit der Technik zu finden. Die aktuelle Weltlage macht das aber nicht gerade einfacher. Das Dasein auf Twitter oder Tiktok hat schon längst nichts mehr mit Eskapismus zu tun. Im Gegenteil, die sozialen Medien zeigen die Missstände der Welt wie unter einem Brennglas. Als die Corona-Pandemie begann, entwickelte sich der Begriff des Doomscrollings - der Unfähigkeit, angesichts niemals abreißender schlechter Nachrichten das Smartphone wegzulegen.

Statt Fotos von ausgebrannten Panzern gibt es nun also beschauliche Wasserfälle

Zum Glück gibt es nun, glaubt man der Washington Post, eine Gegenbewegung zu dieser Gedankenmühle. Demnach tauchen angeblich immer häufiger sogenannte "Digital Resting Points" auf Instagram, Tiktok oder Twitter auf. Die Rastplätze im steten Tosen sind nichts weiter als schöne Bilder, verbunden mit der Bitte, sich doch ein bisschen Zeit zu nehmen.

Anstatt Fotos von ausgebrannten Panzern, verdorrten Feldern und Massen von rechtsverschwörerischen Protestgruppen gibt es nun also beschauliche Wasserfälle, mystische Steinkreise oder glühende Sonnenuntergänge im Feed. Zehntausende machen mit. Ist das schon ein nachhaltiger Trend oder nur ein verzweifeltes Aufbegehren? Der Hinweis, dass man diese Orte ja durchaus auch selbst besuchen könnte, würde man nur die internetfähigen Endgeräte mal abschalten, zählt jedenfalls nicht mehr.

Kann Ruhe schon als Akt des Widerstands gelten? Ist die Mini-Bewegung eine logische Reaktion auf spätkapitalistische Erregungszustände und darauf, wie allumfassend virtualisiert das Leben in den vergangenen beiden Jahren geworden ist? Die Frage, wie man einen Schutzraum vor dem System schaffen kann, der gleichzeitig Teil des Systems ist, ist aber nicht geklärt. Schließlich beginnt für so gut wie alle Nutzer, die halbwegs ernsthaft eine Präsenz in den sozialen Medien unterhalten, die Freizeit heimlich in Arbeit auszuarten.

Ein nicht gänzlich unbekanntes Phänomen: Schon Theodor W. Adorno sprach in seinem Vortrag über Freizeit darüber, dass diese dazu "tendiere, zum Gegenteil ihres eigenen Begriffs, zu dessen Parodie zu werden. In ihr verlängert sich Unfreiheit, den meisten der unfreien Menschen so unbewusst wie ihre Unfreiheit selbst". Denn "unter der Hand wird freilich die Kontrebande von Verhaltensweisen aus der Arbeit, welche die Menschen nicht loslässt, doch eingeschmuggelt".

So ist es auch heute noch: Während draußen die Welt untergeht, freut man sich über einen mickrigen Endorphinkick, weil ein Wildfremder das Foto des letzten Mittagessens auf Instagram würdigt - und sorgt damit doch nur wieder dafür, dass Mark Zuckerberg ein bisschen reicher wird. Es ist an der Zeit, das sein zu lassen.

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