Süddeutsche Zeitung

Don DeLillos 9/11-Roman:Analyse als Andacht

Lesezeit: 5 min

Den 11. September in Worte fassen: Don DeLillo verweigert in "Falling Man" die historisch-politische Moral und verliert sich naiv und weltfremd im Detail.

Jörg Häntzschel

Die Spezialität des Schriftstellers Don DeLillo ist das Verweben des Politischen und des Privaten, des Medialen und des Intimen. In "Libra" umkreist er das Kennedy-Attentat, in "Mao II" religiös motivierten Terrorismus. Doch im Gegensatz zum Historiker richtet er seinen Blick immer von unten auf ein Ereignis.

Nirgends gelang ihm das auf so atemberaubende Weise wie in "Underworld" (1998), wo er den Leser eine ganze Epoche durchleben lässt, die des Kalten Kriegs in Amerika. Alles was gedacht wurde und hätte gedacht werden können, alles was tatsächlich geschah, scheint darin enthalten, nur schärfer und plastischer. Wer das Buch las, verstand sofort: Das ist Literatur, deshalb gibt es sie.

Die Welt in der Straße

Wie aber würde DeLillo mit einem Ereignis wie dem 11. September umgehen, fragte man sich. Einem Ereignis, das schon im Moment seines Geschehens bis in die letzte Ambivalenz medial ausgeleuchtet war, das zugleich trotz seiner Ikonenhaftigkeit gegenüber dem verblasst, was aus ihm folgte? Die größte Überraschung seines neuen Romans "Falling Man", der vergangene Woche in den USA erschien, besteht darin, dass DeLillo diese beiden Schwierigkeiten einfach ignoriert (Don DeLillo: Falling Man, Scribner, New York. 246 Seiten, 26 Dollar).

Sechs Jahre nach dem 11. September beschreibt er das Ereignis, als sei es nie zuvor beschrieben worden. Und er beschreibt es, als sei seitdem die Geschichte stehengeblieben: Er legt es unter das Mikroskop wie einen Kristall, wie etwas hartes, abgeschlossenes, etwas das man in Ruhe durchleuchten kann.

"Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, eine Zeit und ein Raum von fallender Asche und beinaher Nacht." Im ersten Satz scheint DeLillo - völlig angemessen - ein globales Panorama aufzuziehen. Doch das ist ein Missverständnis. Schon im nächsten Satz ist seine Welt zur Straße geschrumpft - und schrumpft immer weiter.

Wie reduziert und spröde diese Welt ist, wird erst wirklich deutlich, als er am Sonntag bei einer Veranstaltung in New York aus seinem Roman liest: ein überraschend alt und steif wirkender Mann mit einer unscharfen Aussprache, die in merkwürdigem Kontrast zur Genauigkeit seiner Sprache steht.

Sturz in die Bedeutungslosigkeit

Jeder in New York hat seine 9/11-Geschichte, so auch Keith, der den Türmen kurz vor deren Einsturz entronnen ist. Leicht verletzt kehrt er zu seiner Frau, seinem Kind und einer Intimität unter Vorbehalt zurück, die er Jahre zuvor verlassen hat. Er ist ein unzuverlässiger Typ, nun doppelt haltlos, weil zwei seiner Pokerfreunde ums Leben gekommen sind. Keiths Frau Lianne hatte sich in einer befriedigenden Routine mit ihrem Sohn Justin eingerichtet. Etwas Glanz erhielt diese Existenz durch die Besuche ihrer kunstsinnigen Mutter und deren Liebhaber, einen deutschen Kunsthändler.

Wie Keith, der seinen besten Freund im Schreibtischstuhl sterben sah, stolpern auch alle anderen Figuren wie unter Schock durch den Roman. Ein paradoxer Zustand gleichzeitiger Taubheit und gesteigerter Sensibilität hat Körper, Geist und Seele befallen. Der 11. September kommt über DeLillos Personal wie Strahlung, die in einem Science-Fiction-Film unerklärliche Veränderungen verursacht.

Wenn Keith seinen Arm auf und ab beugt, um die Verletzung zu heilen, wird die therapeutische Übung zum ritualhaften Befragen des eigenen Körpers. Lianne betastet sich auf der Suche nach einer unaussprechlichen Krankheit. Die Sonne, die Musik, die Wolken, die Liebe: alles scheint seine natürliche Bedeutung verloren zu haben, wie für die Alzheimer-Patienten, denen Lianne beim Aufschreiben ihrer Woche für Woche weiter verblassenden Erinnerungen hilft.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht...

Dieser unverwandte Blick auf die Welt, der gerahmte Löcher sieht, wo eine Leiter ist, der die Bäume beschreibt, weil für den Wald der Begriff fehlt, war schon immer DeLillos Markenzeichen: Es ist als müsse alles neu besehen und benannt werden - und niemand kann das besser als er.

Genau das machte den ominösen Terror, den der Chemieunfall in "White Noise" auslöst, so unmittelbar spürbar. Auch hier, in "Falling Man", bedient sich DeLillo wieder dieser durch seine große Sprachkunst ermöglichten erzählerischen Technik, doch ihr fehlt der Widerstand, sie läuft ins Leere.

Ob aus eigener Anschauung oder aus dem Fernsehen: Der Leser kennt den Schneefall aus Kopierpapier, die entsetzt nach oben gerichteten Blicke, die Vermisstenfotos, er hat selber ängstlich nach tieffliegenden Flugzeugen Ausschau gehalten - kurz, er bedarf der umkreisenden Beschwörung dieser Phänomene nicht mehr, weil er sie aus seinem eigenen Durchleiden des 11. September nur zu gut kennt.

In "Underworld" hat DeLillo eine ganze Ära aus einem über 50 Seiten beschriebenen Baseballspiel hervorgehen lassen. In "Falling Man" ist es umgekehrt. Der unmodulierte posttraumatische Stupor, den er seinen Figuren aufzwingt, reduziert die Darstellung des Weltereignisses auf das konkret Erfahrene, Sichtbare. Schon die Namen Bush und Giuliani, die Zahl der Toten und der bevorstehende und dann beginnende Krieg liegen außerhalb des Gesichtsfelds.

Wattige Benommenheit

Diese angestrengte Beschränkung bringt aber keine neuen Einsichten zu Tage, wirft kein neues Licht auf diese seltsamen Wochen. "Es heißt, Journalismus sei die erste Fassung der Geschichtsschreibung. Vielleicht ist der Roman die letzte", meint DeLillo auf der Bühne. "Der Roman kann ins Unterbewusste vordringen." Doch wo das Unterbewusste zu sein hätte, findet DeLillo hier nur eine wattige Benommenheit.

DeLillos Strategie, die weltpolitische Silhouette von 9/11 zu verwischen, um sich ganz auf die Erfahrung selbst zu beschränken, hätte erfolgreich sein können, wenn er sich mit seiner Erzählung weiter vom Ereignis gelöst hätte. Doch seine Maschen sind so locker geknüpft, dass der dichte Teppich der papiernen Vorlagen darunter durchscheint.

Auch er konnte 9/11 nicht neu erfinden, obwohl er mit Hilfe von Freunden näher an Ground Zero herankam als die meisten. Gefragt nach seinen Recherchen, antwortet er achselzuckend: "Zeitungen, Fernsehen und der Bericht der Regierungskommission."

Zu früh für die letzte Fassung

Selbst seine Figuren wirken wie alte Bekannte aus den Pressefotos. "Falling Man" zu lesen ist deshalb oft, als blättere man in einer der Zeitschriften, die in ihren Sonderausgaben Tage nach dem Ereignis die besten Fotos versammelten; es handelt sich weniger um die literarische Darstellung eines Geschehens, als um die Darstellung von dessen Darstellung: es ist ein metamedialer Roman. Besonders befremdend wirkt das bei dem in die Handlung eingewobenen Rückblick auf die Geschichte der 19 Terroristen. Sie liest sich wie eine Übersetzung der einschlägiger Magazinreportagen ins DeLillosche.

Es gibt einen Nebeneffekt von DeLillos hyperpräzisem Blick: Je detaillierter die Dinge unter seiner Lupe erscheinen, desto mehr laden sie sich mit Bedeutung auf. Die genauestmögliche Beschreibung wird zur Feier des Besonderen, die Analyse zur Andacht. Diese Art von beschwörender Aufmerksamkeit nun, sechs Jahre danach, ausschließlich dem Anschlag selbst zukommen zu lassen, ist befremdend und unverständlich.

So schockierend der Tag und seine unmittelbaren Auswirkungen waren, so wenig lässt er sich heute denken ohne das, was ihm folgte: zwei Kriege, deren Ende unabsehbar ist; Zehntausende Tote in Afghanistan und im Irak; mehr tote Amerikaner als am 11. September; und eine Krise die Amerikas politische und moralische Autorität auf lange Zeit beschädigt hat. Nichts davon wäre geschehen, hätte die Bush-Regierung nicht immer wieder das Grauen des 11. September beschworen. Diese Beschwörung nun selbst zu unternehmen, als hätten nicht andere mit perfiden Absichten es bereits getan, erscheint naiv und weltfremd.

Drei Jahre nach dem 11. September kehrt der Erzähler DeLillo zurück zu seinen Figuren. Liannes Mutter ist gestorben, Keith verbringt seine Tage beim Poker in Las Vegas. "Es waren die einzigen Passagen, die mir beim Schreiben Spaß gemacht haben", meint DeLillo so bitter, als sei er selbst nicht recht überzeugt von seinem in Amerika sehr kritisch aufgenommenen Buch. Für die letzte Fassung des 11. September war es noch zu früh.

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Quelle:
SZ vom 22.5.2007
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