Dominik Grafs Film zum "Fall Peggy":Ein Krimi, der alle Grenzen überschreitet

Das Mädchen Peggy verschwand vor zehn Jahren in Oberfranken. Ein verstörender, rätselhafter Fall. Nun hat Dominik Grafs Thriller "Das unsichtbare Mädchen" bei den Hofer Filmtagen Premiere. Er denkt den realen Kindermordfall radikal weiter.

Michael Bitala

Der alte Kommissar hat nichts mehr zu verlieren. Er ist schon gescheitert, die Tragödie seines Lebens steckt in seinem Keller. "Komm, trau dich", sagt der pensionierte Polizist Josef Altendorf zum jungen Kollegen Niklas Tanner, als dieser an der Treppe kurz zögert. Dann geht es hinab in den gespenstischen Untergrund, der volltapeziert ist mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Ermittlungsakten. Sie alle erzählen davon, dass vor elf Jahren ein achtjähriges Mädchen verschwunden ist. Nachdem Altendorf als Chef der Sonderkommission lange Zeit weder Kind noch Täter finden konnte, wurde er abgelöst - und der Fall schnell geklärt: Ein geistig behinderter Gastwirtssohn soll das Mädchen Sina ermordet haben.

Das unsichtbare MÅ dchen (AT)

Der reale Fall ist das Grundthema, doch als Fiktion ist er völlig neu komponiert: Dominik Graf (li.) bei den Dreharbeiten zu "Das unsichtbare Mädchen". Silke Bodenbender (re.) ist als Mutter der verschwundenen Sina ein Ereignis, Ulrich Noethen (hinten li.) als Kommissar ein grandioser Mephisto.

(Foto: ZDF Bilderdienst)

Geht denn das? Das fragt sich nicht nur der junge Polizist Tanner, der gerade von Berlin nach Oberfranken gekommen ist, im Film "Das unsichtbare Mädchen". Das war auch die Frage, die sich der Regisseur Dominik Graf gestellt hat, als ihm der Schriftsteller Friedrich Ani den Plot für das Drehbuch vorstellte, das er zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Dokumentarfilmerin Ina Jung, schreiben wollte. Kann jemand als Mörder verurteilt werden, obwohl es keine Leiche gibt? Wenn nicht einmal feststeht, ob das Kind wirklich ermordet wurde?

Es geht. Das weiß jeder, der den "Mordfall Peggy" kennt. Am 7. Mai 2001 verschwand das Mädchen im oberfränkischen Lichtenberg, nahe der tschechischen Grenze. Drei Jahre später, nachdem der Chefermittler ausgetauscht war, wurde der Gastwirtssohn Ulvi wegen Mordes verurteilt.

Einem geistig behinderten Mann, der damals auf dem Stand eines Zehnjährigen war, müsste demnach der perfekte Mord gelungen sein. Er hätte nicht mal eine Stunde Zeit gehabt, die Leiche verschwinden zu lassen. Suchmannschaften und auch die Kameras von Tornados konnten sie in den Tümpeln und Wäldern der Region nicht finden. Es gab keine Blut- und keine anderen DNS-Spuren, und es gibt bis heute Menschen, die das Mädchen nach der vermeintlichen Tat noch gesehen haben wollen.

Nach einem stundenlangen Verhör ohne Rechtsbeistand, in dem auch noch sehr fragwürdige Methoden angewandt wurden, die in den meisten anderen Bundesländern verboten sind, legte Ulvi ein Geständnis ab. Kurz darauf widerrief er es. Geholfen hat es ihm nichts. Er sitzt bis heute als verurteilter Mörder in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie.

Wenn Dominik Grafs Thriller "Das unsichtbare Mädchen" an diesem Samstagabend bei den 45. Hofer Filmtagen Premiere hat, wird er das Publikum aufwühlen wie schon lange kein Werk mehr auf diesem Festival. Handelt es sich bei dieser ZDF-Produktion doch um einen Krimi, der Polizei, Justiz und Politik mit einer Härte angreift, wie man es selten sieht - und der natürlich starke Bezüge zum realen Fall Peggy hat und noch dazu in Hof und Umgebung gedreht wurde, also in unmittelbarer Nähe zu Lichtenberg, wo das Mädchen verschwand. Der Ansturm auf "Das unsichtbare Mädchen" ist jedenfalls so groß, dass er auch noch am Sonntag zweimal gezeigt wird. Fernsehzuschauer müssen noch bis zum kommenden Jahr warten, dann wird der Film auf Arte und im ZDF ausgestrahlt.

Für Friedrich Ani und Ina Jung ist der "Mordfall Peggy" einer "der größten Polizei- und Justizskandale" der jüngeren Zeit und die "wesentliche Inspirationsquelle" für ihr Drehbuch. "Für jeden denkenden und fühlenden Menschen ist dieser Fall unfassbar", sagt Ani. Vor allem Ina Jung, die einen Dokumentarfilm drehen wollte, hat jahrelang recherchiert und kennt sich heute im "Mordfall Peggy", der für sie immer noch ein "Vermisstenfall Peggy" ist, vermutlich besser aus als jeder Ermittler oder Anwalt.

Und dennoch: Auch wenn die Grundsituation des Films auf Teilen des wahren Falls aufbaut, so hat er mit ihm weit weniger zu tun, als es all die aufgeregten Schlagzeilen der vergangenen Monate glauben lassen ("Tatort-Star jagt Peggys Mörder"). Das hängt schon mit den drei Erzählern zusammen. Ina Jung kennt genug Facetten des Falls, dass sich daraus viele Varianten für eine Fiktion ableiten lassen. Friedrich Ani ist ein preisgekrönter Krimiautor und hat den Fall Peggy schon mal in seinem Roman "Totsein verjährt nicht" verarbeitet. Und Dominik Graf ist in Deutschland der wohl beste Regisseur, wenn es um herausragende Polizeithriller geht ("Die Katze", "Frau Bu lacht", "Der scharlachrote Engel"). Erst im vergangenen Jahr sorgte er mit seiner zehnteiligen Serie "Im Angesicht des Verbrechens" über die Berliner Russenmafia für Furore.

Gibt es eine "Order" von oben?

Ein Vermisstenfall aus Oberfranken? Schlampige Ermittlungen? Nein, das ist viel zu klein für diesen Krimi, den das ZDF aus welchen Gründen auch immer als "Landschaftsthriller" ankündigt. Hier geht es um mehr, hier geht es um ein System, um Polizeiarbeit, die von der Politik beeinflusst wird, und um Ermittlungsmethoden, die krimineller sind, als man es sich vorzustellen wagt.

Das Grundthema des Krimis ist also der Fall Peggy, aber es wurde von Graf, Ani und Jung völlig neu komponiert und mit dem Abstand der Fiktion behandelt. Der junge Berliner Polizist Tanner (Ronald Zehrfeld) kommt nach Oberfranken, wo er gleich zu Beginn des Films eine erdrosselte Frau am Straßenrand findet. Diese hatte kurz vor ihrem Tod gesagt, dass sie Sina vor wenigen Tagen in einem Supermarkt im tschechischen Grenzgebiet gesehen habe. In der Wohnung der Ermordeten stößt Tanner dann auf eine dicke Mappe mit Zeitungsausschnitten, die das Verschwinden des Mädchens und die Verurteilung des Gastwirtssohns Ecco dokumentieren.

Tanner stolpert also "ahnungslos und unvoreingenommen", so Dominik Graf, in diesen alten Fall hinein und "stellt sich dieselben Fragen, die wir uns stellen würden". Fragen, die seinem Vorgesetzten Wilhelm Michel nicht passen. Er ist der große Gegenspieler zum pensionierten Polizisten Altendorf. Er hat ihn damals als Leiter der Sonderkommission abgelöst und Ecco als Mörder überführt. Nun setzt Michel den Mann der Toten mit falschen Behauptungen im Verhör so unter Druck, dass dieser sich noch in der Nacht in der Gefängniszelle erhängt. Ehedrama. Fall gelöst.

Wenn Verbrechen so schnell aufgeklärt werden, sagt Dominik Graf, dann könnte es doch sein, dass es eine "Order" gibt. Mit dieser Grundidee spielt der Film. Michel bekommt seine "Order" aus der Münchner Staatskanzlei, vom Innenminister und dessen Staatssekretär, die - das lässt der Film im Ungefähren - mit dem Fall Sina zu tun haben müssen. Der Minister will Ministerpräsident werden, da stört jedes Gerücht über seine angebliche Nähe zum Kindersexmilieu an der tschechischen Grenze, da wäre jeder Bezug zur verschwundenen Sina fatal. Kommissar Michel muss also für Ruhe in der Provinz sorgen.

Schon da ist klar, warum "Das unsichtbare Mädchen" von der Bayerischen Filmförderung nicht unterstützt wurde, obwohl der Krimi eigentlich alle Kriterien erfüllt, um gefördert zu werden. Nicht zuletzt, weil Graf nach Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit" aus dem Jahr 1976 zum ersten Mal wieder einen großen Film in Hof gedreht hat - und damit eine Region in den Mittelpunkt stellt, die sonst nur wenig beachtet wird. "Das ist doch der ultimative Heimatfilm", sagt Friedrich Ani zur Ablehnung der Filmförderung, "wenn auch ein bisschen härter".

Der junge Polizist Tanner, unterstützt vom pensionierten Kommissar Altendorf, lässt jedenfalls nicht locker und beginnt, im Fall des vermissten Mädchens zu recherchieren, der die kleine Stadt - im Film wie auch in der Wirklichkeit - bis heute spaltet und auch traumatisiert. Im Gasthaus von Eccos Vater hat einer eine rote Linie auf den Boden gemalt. Auf der einen Seite stehen die, die an die Unschuld des Jungen glauben, auf der anderen müssen die ihr Bier trinken, die ihn als Mörder vor Gericht gebracht haben. Und diese rote Linie zieht sich sinnbildlich durch die ganze Region.

Doch der Film ist nicht nur durch seinen Stoff so fesselnd, durch das ungestüme Losrennen des jungen Tanner, der nach Gerechtigkeit sucht und dabei jede Art von Grenze überschreitet. "Das unsichtbare Mädchen" lebt auch von seiner grandiosen Besetzung. Allen voran Ulrich Noethen, der dem Kommissar Michel eine herrlich diabolische Kraft und fränkische Kaltschnäuzigkeit verleiht. Elmar Wepper überzeugt mit jeder Geste als pensionierter, introvertierter und verbitterter Polizist Altendorf. Und Silke Bodenbender stellt die Mutter von Sina so unheimlich, unberechenbar, kaputt und herzzerreißend geplagt dar, dass man jede Sekunde um sie fürchtet - und auch Angst hat vor ihren Handlungen.

Das Wichtigste aber ist, mit welcher Härte dieser Film erzählt wird. Keine Figur ist eindeutig, keiner nur gut oder böse, so wie man es sonst aus deutschen Krimis gewohnt ist. Moralische Fragen interessieren nicht, hier schläft sich eine junge Polizistin mit ihrem Chef nach oben, hier verprügeln sich Tanner und seine Kollegin Evelin Fink (Anja Schiffel) so brutal, dass nicht nur die Möbel des Hotelzimmers zu Bruch gehen, sondern auch die Sehgewohnheiten all derer, die von dem, was Friedrich Ani das "deutsche Filzpantoffel-Fernsehen" nennt, seit Jahren eingeschläfert werden.

Der größte Tabubruch aber findet am Schluss des Films statt und soll nicht verraten werden, nur so viel: Er ist absolut unkorrekt, verstörend und gleichzeitig auch erlösend. Man kann den ZDF-Verantwortlichen deshalb nur danken, dass sie dem "Unsichtbaren Mädchen" diese Freiheit gelassen haben - verstößt sie doch gegen jede Gepflogenheit des deutschen Fernsehkrimis. Das Ende war dann auch ein Herzensanliegen von Friedrich Ani und Ina Jung. Sie haben sich ihre Erlösung, die es im realen Fall Peggy nicht gibt, ins Drehbuch geschrieben.

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