Dominik Graf wird 70:Auf der Seite der Außenseiter

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Der Regisseur Dominik Graf bekommt die höchste Auszeichnung der Stadt München im Bereich Film. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Dominik Graf ist vom Film besessen. Vom Filmemachen, Filmesehen, von den großen Regisseuren. Aber selten war er so glücklich wie beim Drehen von Fernsehkrimis.

Von Fritz Göttler

Eine endlose Nacht, Berlin 1931. Arbeitslosigkeit, politische Gewalt, Nachtlokale, Prostitution, Kriegsversehrtheit, Anarchie. Schweres Licht suppt über den Straßen. Dazwischen leere Tage auf dem Lande, mit Baden oder Tontaubenschießen. So sieht es aus in "Fabian oder Der Gang vor die Hunde", dem neuesten großen Werk von Dominik Graf, nach dem Roman von Erich Kästner, uraufgeführt auf der Berlinale 2021. "Und in allen Richtungen wohnt der Untergang ..." Die Einstellungen kommen schnell wie die Tontauben aus der Schleuder, aber nehmen kein richtiges Ende, hacken sich gegenseitig ab. Das Tempo ist so gewaltig, dass der Film zu stagnieren scheint.

Dominik Graf feiert die Anarchie, die Spontaneität, die Lust auf den Augenblick und seine Unwiederbringlichkeit. Man würde gern mit ihm zusammensitzen und sich unterhalten über Filme und Filmemacher - er streift leidenschaftlich gern durch die Filmgeschichte -, über Murnau und Harlan, Coppola und Klaus Lemke, über Robert Aldrich und Adolf Wohlbrück, Lucio Fulci und Donald Cammell, Jean Eustache und Andrzej Wajda, Morricone und Tarkowski, über die TV-Serie "Homicide", über Brentano oder Schiller, über die er Filme gedreht hat.

Dominik Graf hat von früh an für ein freies, anderes Kino gekämpft, auch gegen die Filmemacher der Generation vor ihm, die in den Sechzigern das Neue Deutsche Kino etablierten - Wenders, Schlöndorff, Kluge, Reitz, Herzog (der am Montag achtzig wurde) -, deren Filme waren ihm schnell zu saturiert: Belehrungskino, Streberkino. Schuld daran war ausgerechnet das solide Fördersystem, das sie erkämpft hatten: "Die Vollsubventionierung unserer Branche macht ja jeden Regisseur jeglicher Couleur unweigerlich zum geknebelten Hanswurst des kulturellen Event-Geweses." Und Opas Kino war für ihn nie so tot, wie es in Oberhausen propagiert wurde. Graf war auf der Seite der Außenseiter, von Klaus Lemke oder Roland Klick, deren Filme waren aggressiv, zuschlagend, mit Unschärfen, schmuddelig. "Was trauen wir uns eigentlich, uns einer Vergangenheit mit einer Hyperschärfe zu nähern, als wüssten wir genau, wie das aussah!"

Dominik Graf, Saskia Rosendahl und Tom Schilling am Set bei den Dreharbeiten zum Kinofilm "Fabian oder Der Gang vor die Hunde". (Foto: Matthias Wehnert/imago images/Future Image)

Dominik Graf wurde am 6. September 1952 geboren, seine Eltern waren das Schauspielerpaar Selma Urfer und Robert Graf, 1974 begann er an der Hochschule für Fernsehen und Film in München zu studieren. Sein Abschlussfilm "Der kostbare Gast" von 1979 erhielt einen Bayerischen Filmpreis. Damit begann eine Karriere mit vielen überraschenden Wendungen, manche am Rande der Katastrophe. Der große millionenteure Krimi "Die Sieger" war 1994 kein Erfolg in den Kinos, eine komplexe Studie einer kleinen Bande von SEK-Leuten, die selbst das große Geld wollen, inszeniert wie eine Passionsgeschichte, das mörderische Finale, sein top of the world vollzog sich am Karwendel: die Lust an der Überforderung.

Nach Kino-Frust hat Dominik Graf sich immer wieder in die TV-Arbeit gestürzt, er hat zu vielen deutschen Krimiserien Beiträge inszeniert, mit Schimanski, dem "Fahnder", Sperling, dem "Polizeiruf"-Hauptkommissar Hanns von Meuffels, den Münchner "Tatort"-Ermittlern Batic und Leitmayr. "Die Polizeiserie ist Heimat und Kosmos", sagt er. "Ich selbst war als Regisseur niemals so glücklich wie in jenen Momenten, in denen ich vermeintliche ,Krimi'-Genre-Konfektionsware bedienen und die Serienfilme auf die Straßen, in die Polizeibüros und gleichzeitig (gemeinsam mit dem Drehbuchautor) auf den Kopf stellen durfte."

Graf ist der deutsche Stadtfilmer par excellence, seine frühen Filme spielen in München und Umgebung (und fangen die nach den Olympischen Spielen aufblühende Lockerheit der Stadt ein), 2000 hat er "München - Die Geheimnisse einer Stadt" gemacht, gemeinsam mit Michael Althen: "Ob man will oder nicht", heißt es da, "so trägt jeder seine eigene innere Stadt in sich, und wie bei einem Baum würde ein Schnitt Altersringe sichtbar machen, die sozusagen abbilden, wie die Stadt in uns allen wächst oder andersherum: wie man selbst in die Stadt hineinwächst."

Nie geht's bei ihm um das singuläre Werk, das Meisterwerk

Die zweite Stadt in Grafs Werk ist Berlin, das mit München ein System kommunizierender Röhren verbindet, der Entwicklung Münchens zurück zu "zwergiger" Provinzialität korreliert Berlins urbaner Aufstieg nach der Wende. 2008 begann Graf "Im Angesicht des Verbrechens", eine zehnteilige TV-Chronik der Stadt Berlin im Spiegel der Geschäfte der Russenmafia dort, voller Emotionen und Gewalt, mit einer brisanten Produktionsgeschichte, die dann zur Insolvenz der Produktionsgesellschaft führte. Es gibt keine graden Wege in dieser Serie, sie sind ausweichend und abwegig - und auch hier gibt es schon ein dekadentes Tontaubenschießen und noble, stolze, aber auch herzzerreißende Liebe. Die erste Folge beginnt in einem Dorf in der Ukraine, ein Mädchen taucht in einem Weiher, weil man unter Wasser das Gesicht des Mannes sehen soll, den man dereinst lieben wird ...

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Weshalb er sich so heimisch fühlt in den Polizeiserien: weil "die Dreharbeiten selbst ein wenig ähnlich strukturiert sind wie die zu erzählende Polizeiwirklichkeit: hierarchisch geordnet, klare Anweisungsstrukturen, dennoch ein oft konfus wirkender, übermächtiger Apparat, häufig (nicht immer!) störende, dickköpfige Vorgesetzte, ein kaputtes, bis in die Knochen eitles, machtgieriges politisches Umfeld (bei unserer Arbeit am besten vergleichbar mit der Selbstdarstellung der deutschen Filmbranche und der Konzernideologie der TV-Sender). Demgegenüber aber erlebt man im schönsten Fall das allmähliche Entstehen eines Mannschaftsgeistes an den Drehorten, im alleinigen Dienst an der Sache."

Dominik Graf ist vom Filmemachen (und Filmesehen) besessen, aber nie geht's bei ihm um das singuläre Werk, das Meisterwerk, sondern auf ein Immer-weiter, das das "Event-Gewese" meidet. Termite art, so hat Manny Farber das genannt, der größte amerikanische Film- und Kunsttheoretiker, die Kunst der amerikanischen Genremeister Sam Fuller und Don Siegel, Howard Hawks und Raoul Walsh, die "immer vorwärtsgeht und ihre eigenen Begrenzungen frisst und, wie denn nicht, auf ihrem Weg nichts lässt als die Reste ihrer gierigen, geschäftigen, unordentlichen Aktivität". Am Dienstag wird der Termiten-Künstler Dominik Graf siebzig Jahre alt.

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