Süddeutsche Zeitung

Dolmetscherin in Brüssel:Hat der gerade Scheißkerl gesagt?

Annette Stachowski dolmetscht seit mehr als dreißig Jahren in Brüssel. Ein Gespräch über die Macht der Sprache, komplizierte Fischnamen und die Probleme der Japaner mit Trump.

Interview von Pia Ratzesberger, Brüssel

Im Europäischen Parlament richten sich alle Kameras auf die Politiker. Doch am Rand, in den verdunkelten Kabinen, sitzen diejenigen, die europäische Politik erst möglich machen: die Dolmetscher. Annette Stachowski, 61, dolmetscht seit mehr als dreißig Jahren für Europa, erst in der Kommission, dann im Parlament. Sie muss deshalb nicht nur wissen, dass sie "he's hit for six" für die Deutschen mit "alle Neune" übersetzen muss. Sondern auch, was zu tun, ist, wenn ein Politiker einen anderen als "Scheißkerl" bezeichnet - oder langweilige Witze erzählt.

SZ: Frau Stachowski, Sie übersetzen seit Ende der 80er Jahre für die Europäische Union. Nicht immer einfach, oder?

Annette Stachowski: Nein. Als ich noch bei der Kommission war, musste ich mal einen Kollegen bei einer Sitzung der Papierindustrie vertreten. Das war ein Armageddon, da ging es um Walzanzugsrollen und was nicht sonst noch alles.

Was ist eine Walzanzugsrolle?

Keine Ahnung, das muss ich auch nicht wissen. Aber ich muss sie auf Französisch und in allen anderen Sprachen erkennen können.

Sie übersetzen vom Englischen, Französischen, Niederländischen und Portugiesischen ins Deutsche?

Wir übersetzen nicht, wir dolmetschen, das ist wichtig. Übersetzen ist das Schriftliche und Dolmetschen ist die Wiedergabe dessen, was gesagt wird. Natürlich so akkurat wie möglich: Jemand sagt etwas und wir verdolmetschen das - aber wir legen den größten Wert auf den Sinn.

Den man aber nicht erfasst, wenn man die Walzanzugsrolle nicht erkennt?

Wenn, wie damals, ein Kollege krank wird, und ich einfach so in die Kabine gehe, ist das schwierig, sobald es um Technisches geht. Wenn im Plenum aber über die britischen Wahlergebnisse diskutiert wird, muss ich mich nicht groß vorbereiten. Man muss als Dolmetscher ohnehin Interesse am Tagesgeschehen haben. Man sollte Zeitung lesen - und in jeder seiner Sprachen wichtige Medien verfolgen.

Was hat sich im Parlament verändert in all den Jahren?

Als ich ankam, 1994, ging es vor allem um politische Fragen: Sind wir bei einem Thema jetzt dafür oder dagegen? Was haben die einen gesagt, was haben die anderen gesagt? Jetzt bestimmt das Parlament die Gesetze mit und muss sich mit Dingen wie dem Emissionshandel beschäftigen, also mit vielen technischen Details. Das ist sehr anspruchsvoll für die Politiker, und ich bin immer wieder voller Bewunderung, wie viel Sachkenntnis die haben.

Wie sehr beeinflusst das Dolmetschen dabei den politischen Prozess?

Unsere Zuhörer stehen ein bisschen über den Dingen, sie kennen die Inhalte und ihre Kollegen. Der Dolmetscher ist nicht das Entscheidende. Wir müssen uns bemühen, so getreulich wie möglich wiederzugeben, was gesagt wird, und unsere Zuhörer machen daraus, was sie für richtig halten.

Aber ohne Sie und Ihre Kollegen wäre europäische Politik überhaupt nicht möglich.

Das stimmt, bisher nicht - obwohl schon viel Englisch gesprochen wird. Die sachliche Kommunikation schafft man auch mit wenigen englischen Worten. Aber gerade wenn es politischer wird, leistet die Verdolmetschung einen Beitrag. Eben dann, wenn es um Nuancen geht.

Es ist wahrscheinlich schwer, jede Nuance wiederzugeben. Denkt man manchmal: "Hm, das hat der eigentlich schärfer formuliert"?

Sicher, man möchte auf keinen Fall Öl ins Feuer gießen. Aber wenn Worte wie "scheiße" fallen, muss man die wiedergeben, auch wenn es einem schwerfällt.

Zum Beispiel?

Die berühmte Geschichte, als der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi 2003 im Plenum sprach. Berlusconi beleidigte Martin Schulz, der damals Vorsitzender der Sozialisten war. Berlusconi sagte, in Italien werde gerade ein Film über Konzentrationslager gedreht, und er schlug Schulz für die Rolle eines Aufsehers vor. Aber der Dolmetscher hat nicht die Aufgabe zu zensieren, sondern alles wiederzugeben, was im Saal gesagt wird. Die Dolmetscherin damals hat einen kühlen Kopf bewahrt und es genauso verdolmetscht, wie Berlusconi es gesagt hat.

Waren Sie einmal in einer ähnlichen Situation?

Ich hatte so etwas bei der Kommission in einem Fischereirat. Ein Land ist sehr laut geworden, es ging gegen Deutschland und da fielen Worte wie "Scheißkerl". Das sind Situationen, in die ich nicht gerne komme, weil man nur noch denkt: "Oh Gott, ich möchte jetzt bloß nichts Falsches sagen." Der deutsche Minister kam zu uns in die Kabine und hat gefragt: "Hat der das wirklich gesagt?" Wir haben genickt, er ging wieder raus und sagte galant zu seinem Kollegen: "Übrigens, ich verbitte mir diesen Ton."

Werden die Abgeordneten oft ausfallend?

Nein, das passiert selten. Es wird oft hitzig diskutiert, aber selten herumgepöbelt. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede innerhalb des Parlaments, aber dennoch merkt man gerade hier, dass wir ein Kulturkreis sind. Und das macht das Dolmetschen einfacher: Man hat ein gemeinsames Verständnis davon, was daneben ist. Da haben es Dolmetscher in anderen Kulturen schwerer.

Zum Beispiel?

In Japan. Es ist für die japanischen Kollegen schwer, so drastisch zu dolmetschen, wie zum Beispiel US-Präsident Donald Trump spricht. Denn ihre Kultur ist darauf ausgerichtet, immer die größte Ehrerbietung vor Respektspersonen zu bezeugen.

Wie retten Sie sich, wenn Sie einen Begriff nicht kennen?

Man kann sich nicht retten. Im besten Fall merken die Kollegen das, recherchieren den Begriff auf dem Tablet und schieben einem einen Zettel hin.

Und als Sie noch keine Tablets in der Kabine hatten?

Da kam ich zum Teil mit telefonbuchartigen Vokabellisten, die ich mir selbst zusammengestellt hatte. Fisch ist ein tolles Beispiel: Die Namen von diesen ganzen Fischen kann man nicht im Kopf behalten. Also muss man sich immer wieder auf die Fische vorbereiten. Und wenn irgendein Seehecht oder Dorsch genannt wird, reicht ein flehender Blick in Richtung Kollegen und der Fisch wird recherchiert. Es geht manchmal an die Grenze des Machbaren, und das wissen unsere Zuhörer auch. Deshalb sind die Zuhörer manchmal auch sehr hilfreich.

Inwiefern?

Ich kann mich an eine Sitzung im Haushaltskontrollausschuss vor vielen Jahren erinnern: Es ging im Deutschen um das Wort "Zuverlässigkeitserklärung". Ich hatte mich auf den Ausschuss vorbereitet, aber das Wort war mir in der fremden Sprache nicht geläufig. Also habe ich im Deutschen das falsche Wort benutzt. Die Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, eine Deutsche, lieferte mir das Wort, indem sie es einfach in ihren Wortbeitrag einbaute. Das ist fantastisch, wenn man diese Kommunikation miterlebt. Dafür arbeitet man. Ich finde es toll dabeizusein, wenn Länder sich verständigen. Es ist nicht so toll, wenn Länder abhauen, wie Großbritannien.

Ist es denn möglich, den Sinn zu 100 Prozent zu übertragen?

Wenn jemand seine Sprache sehr gut kann und der Kontext nicht zu technisch ist, kann man hundert Prozent des Sinnes rüberbringen - sofern man akustisch alles mitbekommt. Es passiert im Eifer des Gefechts, dass sich ein Abgeordneter vom Mikro wegdreht, weil er zu einem Kollegen in der Reihe hinter ihm spricht. Im Idealfall gibt man jede Nuance wieder, klar. Aber oft geht es zu schnell, denn das Tempo wird immer schneller.

Weshalb?

Weil immer mehr verlesen wird. Vorbereitete Statements werden in einem Affenzahn vorgetragen. Tschechen und Polen zum Beispiel reden in einer Geschwindigkeit, gerade wenn sie ablesen, die atemberaubend ist. Die Verdolmetschung wird ab 120 Worten in der Minute schwierig. Ausschmückungen in einer Rede muss ich dann weglassen, weil man das so schön auf die Schnelle nicht hinbekommen kann.

Ausschmückungen sind wahrscheinlich ohnehin schwierig zu dolmetschen?

Die Engländer verwenden zum Beispiel gerne Zitate aus der Bibel und von Shakespeare. Und dann auch noch Cricket, dann sagt zum Beispiel einer: "He's hit for six." Also: "Den hat er für sechs gehauen." Das sagt einem Deutschen überhaupt nichts.

Und dann?

Da muss ich sagen "Alle Neune". Kegeln kennt in Deutschland jeder. Das ist das Schwierige am Dolmetschen und das Schöne. Wir hatten einmal einen Abgeordneten, der gerne im Französischen schwierigste Metaphern verwendet hat, zum Beispiel "tirer des plans sur la comète," also "Pläne auf den Kometen ziehen". Eine Kollegin sagte mir dann, das heiße einfach, dass eine Sache unsicher sei. Ich habe Proust gelesen, aber das ist mir nie untergekommen.

Wie dolmetschen Sie das?

Im Deutschen wäre das "auf Sand gebaut".

Und was sagen Sie, wenn Sie sich doch einmal vertan haben?

Das passiert natürlich und dann korrigiert man sich: "Was natürlich eigentlich gemeint war, ist ... die Dolmetscherin entschuldigt sich" oder "Und übrigens, dass waren nicht 3,5 Millionen, sondern das waren 3,8 Millionen".

Müssen Sie manchmal ganze Nächte dolmetschen, wenn sich die Politiker nicht einig werden?

Nicht mehr so wie früher. Da kam man morgens um zehn rein und am nächsten Tag um zehn wieder raus. Bei der Kommission zum Beispiel waren wir Ende der 80er Jahre in einer endlos langen Sitzung. Es war so nachts um zwei und die Sitzung war ausgesetzt worden, weil der Ratspräsident sogenannte Beichtstuhlgespräche führte, wo er mit den Delegationen einzeln spricht. Wir, die drei deutschen Dolmetscher, fingen also an, Skat zu spielen. Wir mussten ja wach bleiben. Wir hatten Pizza kommen lassen, das war damals noch ohne Weiteres möglich. Der Pizzabote kam einfach ins Haus.

Und dann?

Der Ratspräsident versuchte die Stimmung etwas aufzulockern und sagte schließlich: "Ich hätte einen Witz für die Kollegen." Alle Beteiligten waren etwas gelangweilt, weil er den Witz wohl schon sehr oft erzählt hatte. Mein Kollege sagte einfach statt zu dolmetschen: "Ah, jetzt kommt wieder der Witz, den kennen Sie ja schon, aber Sie haben Glück, ich kennen einen besseren." Und er erzählte diesen nicht ganz anständigen Witz, der ein prima Lacherfolg war. Die Deutschen waren begeistert und der Ratspräsident war ganz happy, dass die Deutschen seinen Witz so lustig finden.

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