Süddeutsche Zeitung

Dokumente eines Lebens:Leidenschaftlich bis zum Exzess

Eine neue Edition erschließt unbekannte Briefe des rastlosen Komponisten Gustav Mahler: "In Eile - wie immer!"

Von Jens Malte Fischer

Es war eine gute Wahl des Herausgebers der neuen Ausgabe mit Briefen Gustav Mahlers, Franz Willnauer, als Haupttitel zu nehmen: "In Eile - wie immer!". Wie dieser rast- und ruhelose Mann in seinem nicht übermäßig langen Leben es fertig gebracht hat, neun Sinfonien zu vollenden, eine zehnte zu beginnen, daneben noch das "Lied von der Erde" und zahlreiche weitere Lieder zu schreiben und dies wohl gemerkt als "Nebenprodukt" einer Dirigentenkarriere, die ihn vom Pult von Provinzkapellen bis zur Direktion der Wiener Hofoper und entsprechenden Funktionen an der New Yorker Metropolitan Oper sowie der New Yorker Philharmoniker führte, das bleibt für immer Gegenstand fassungslosen Staunens.

Wenn man sich dann auch noch die sicherlich grob geschätzte Zahl von über 5000 Briefen, die Mahler im Lauf seines Lebens geschrieben hat, vor Augen führt, dann versteht man die immer wieder betonte oder auch durchaus ohne Betonung spürbare Eile, in der die meisten dieser Briefe abgefasst wurden.

Die Geschichte seiner Familie nach seinem Tod hat dazu geführt, dass es, man wird das bedauern, keine wirklichen Briefwechsel Mahlers gibt, mit der eher schmaleren Ausnahme Richard Strauss. Er selbst maß den an ihn gerichteten Briefen keine erhebliche Bedeutung bei, und vor allem: zu viel ist verloren gegangen.

Die verwickelte Geschichte der Edition von Mahlers Briefen beginnt 1924, als im Zsolnay Verlag eine erste umfassende Ausgabe erscheint, von der Witwe Alma Mahler herausgegeben und ihrem zeitweiligen Schwiegersohn Paul Zsolnay anvertraut. Die Willkürlichkeiten Alma Mahlers korrigierend hat die Mahlerforscherin Herta Blaukopf diese Ausgabe zweimal revidiert, zum letzten Mal 1996. Gleichzeitig aber hat sich nach und nach eine Unübersichtlichkeit in die Edition der Mahlerbriefe eingeschlichen, die zu einem eigentlich bedenklichen Zustand geführt hat.

Wir haben jetzt insgesamt zehn Bände mit Briefen Mahlers, unter divergierenden Gesichtspunkten und Themenbereichen zusammengestellt, wir haben sechs verschiedene Herausgeber und wir haben fünf verschiedene Verlage. Einerseits kann man sicher sein, dass größere Konvolute mit unbekannten Briefen nicht mehr auftauchen werden, andererseits könnten noch Hunderte Briefe in privaten Sammlungen schlummern, die nur sehr gelegentlich in Auktionskatalogen auftauchen.

Der Weltruhm Mahlers, der sich in den letzten fünfzig Jahren befestigt hat, ließ auch die Preise solcher Dokumente erheblich ansteigen. Eine komplette und vor allem einheitliche kritische Edition dieser Briefe ist dringend geboten. Der Wiener Mahlerforscher Andreas Michalek ist dabei, eine solche Edition vorzubereiten, die aber ohne eine erhebliche Unterstützung nicht zu realisieren ist.

Vorläufig also müssen wir mit der vorhandenen Unübersichtlichkeit zurechtkommen. Franz Willnauer hat schon andere Briefsammlungen Mahlers herausgegeben und kann sich in seiner Kommentierung auf seine reichen Erfahrungen stützen. Der Untertitel "Neue unbekannte Briefe" ist etwas vollmundig und müsste eigentlich lauten "Neue mehrheitlich unbekannte Briefe", denn Willnauer nimmt auch Schriftstücke auf, die bereits publiziert wurden, wenn auch meist "an entlegener Stelle", wie man so etwas formuliert, wenn einzelne Mahler-Briefe in Zeitschriften oder Auktionskatalogen veröffentlicht worden sind - manches war auch bisher nicht ganz so entlegen. Solche Fälle werden natürlich in dieser Edition korrekt vermerkt, und der Mahler-Liebhaber wird diese Anreicherung gerne akzeptieren.

Bei aller Eile schreibt hier ein Verfasser von enormer Lebendigkeit

Wer Mahler als Briefschreiber bereits kennt, wird nicht überrascht sein: in aller Hetze ist er ein Verfasser von enormer Lebendigkeit. Der leidenschaftliche Vielleser und Liebhaber der älteren Literatur, in Auswahl auch zeitgenössischer Autoren, schreibt geschmeidig, vital, farbig, von Energie und Temperament durchblutet, wie es seine ganze Existenz war. Ausrufezeichen und Unterstreichungen sind reich über diese Briefzeilen verteilt, viel Geschäftliches enthalten sie, aber auch Persönlichstes in Liebe, Freundschaft, Enttäuschung und Verbitterung. Die Briefe sind nicht durchgehend chronologisch geordnet, sondern in sechs Gruppen und in diesen wiederum nach den Adressaten, hier dann chronologisch nach ihrem ersten Auftreten als Briefpartner Mahlers. Es ist erstaunlich, welch reiches und schönes Briefmaterial hier noch einmal nachgereicht werden konnte. Allein der Brief an die Jugendliebe Josephine Poisl vom Juni 1880 legitimiert bereits die Edition. Das ist der ganze Mahler: emphatisch, überschwänglich, leidenschaftlich bis zum Exzess und zu ekstatischer Verzweiflung.

Drei Frauen in Mahlers Umkreis gehören zu den Briefempfängern. Die Briefe an die Sängerin Selma Kurz, mit der es eine überschwängliche Beziehung gab, waren bereits bekannt, diejenigen an Nina Spiegler und Misa Gräfin Wydenbruck-Esterházy sind Erstveröffentlichungen und zeigen den einfühlsamen Freund, der Mahler auch sein konnte. Intensiver als bisher sichtbar scheint doch die Beziehung zum Dirigentenkollegen Felix Weingartner gewesen zu sein, der einmal sein Nachfolger in Wien werden sollte. Der Dresdener Opernchef Ernst von Schuch, der Hamburger Freund Hermann Behn, die Schriftsteller Richard Dehmel, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann - der Kreis von Mahlers Interessen und Beziehungen war groß und vielfältig.

Wer sich für Leben und Werk Gustav Mahlers interessiert, der sollte wie immer und hoffentlich ohne Eile zu diesem neuen Band greifen.

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SZ vom 28.05.2016
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