Dokumentarfilm:Stadtgeschichten

Die Filmemacher Lea Becker und Rodolfo Silveira sammeln die Erlebnisse ihrer Mitmenschen. Ihr Video-Kunst-Projekt "True Stories" ist zur Webserie mit eigener Ausstellung gewachsen - in der jüngsten Staffel erzählen Münchner von ihrer Arbeit

Von Anna Steinbauer

Der eine oder andere hat sie womöglich schon an Litfaßsäulen oder auf den Bildschirmen in der U-Bahn entdeckt: den Priester, den Landwirt, die Künstlerin. Sie alle erzählen eine Geschichte aus ihrem Berufsleben. "Ich erzähle euch, wie ich durch einen tragischen Unfall meinen Traumberuf fand", steht in weißen Lettern neben dem Foto eines Landwirts. Oder: "Ich erzähle euch, wie ein Gast aus dem Jenseits eine Trauergemeinde in Atem hielt", wie neben der Abbildung eines Kapuzinermönchs zu lesen ist.

Sie alle sind Teil der dokumentarischen Webserie "True Stories Workers", die im Dezember startet. Die Dokumentarfilmerin Lea Becker hat diese Serie über alltägliche Geschichtenerzähler zusammen mit ihrem Partner entwickelt, dem Regisseur und Kameramann Rodolfo Silveira. In einer Ausstellung, die von diesem Donnerstag an im Atelierhaus in der Bavariastraße stattfindet, wird die Serie erstmals in einer begehbaren Videoinstallation zu sehen sein. Zusätzlich werden jeden Abend Geschichtenerzähler live auftreten und ihre Anekdoten zum Besten geben.

Mit 100 Plakaten und mehr als 600 Bildschirmen, auf denen der Trailer für die Webserie im "Münchner Fenster" läuft, sind die "True Stories Workers" auch als große Marketingkampagne angelegt. "Es geht uns darum, der Stadt München ihre eigenen Geschichten zu zeigen", sagt Becker. Für dieses Konzept hat die Münchner Grafikerin und Filmstudentin das Medienkunststipendium 2016 der HFF bekommen, ermöglicht durch die Kirch-Stiftung und Regina Hesselberger. Konkret bedeutet das: Ein Jahr mietfrei im Atelierhaus an der Theresienwiese arbeiten plus ein monatliches Stipendium und Projektgeld. So konnten Becker und Silveira ihre Serienidee in die Tat umsetzen. "Wir sind Sammler", sagt die HFF-Studentin. "Es geht uns nicht darum, die besten Erzähler zu finden, sondern die besten Geschichten."

Das Geschichtenerzähler-Projekt fand vor mehr als einem Jahr seine Form mit den "True Stories München". Das Filmemacherduo drehte eine komplette Staffel, in der Münchner über ein besonderes Erlebnis berichteten. Bekannte Gesichter wie die Filmfestleiterin Diana Iljine, HFF-Direktorin Bettina Reitz oder Wiesn-Wirt Wiggerl Hagn bekamen sie dazu vor ihre Kamera. Die True Stories setzten sich daraufhin laut Silveira wie ein "Schneeballsystem" fort: Weitere Episoden drehten sie in Japan, Berlin und New York. Fast 70 Episoden sind in zwölf Monaten entstanden.

True Stories

Viele Gesichter, viele Geschichten: Erst stellen sich die Porträtierten vor, dann schließen sie die Augen, dann erzählen sie, was ihnen wichtig ist in ihren Leben. Foto-Collage: OK KOSMOS FILM

Den Anstoß zur neuen Staffel über die Arbeiter Münchens gab Silveira durch seinen Außenblick auf die Stadt. Der Filmemacher kam vor drei Jahren aus Portugal nach München - und blieb. Ursprünglich war er nur zu einem Seminar an die Filmhochschule eingeladen worden, mittlerweile arbeitet er dort als Tutor. Die technische Ausstattung der HFF habe ihn dermaßen fasziniert, dass er nicht in ein Land zurückgehen wollte, in dem pro Jahr acht Filme gedreht wurden und dessen Ausstattung schlechter war als die der Hochschule, erzählt er mit einem Augenzwinkern. Zusammen mit Becker gründete er 2016 die Produktionsfirma Ok Kosmos Film. Silveira hatte den Drang zu verstehen, wie die Gesellschaft in seiner Wahlheimat aufgebaut ist und funktioniert: "Die Arbeiter sind die Leute, die alles am Laufen halten. Wie sieht ihr Alltag aus?" Becker und ihr Partner gingen systematisch vor: Sie teilten die Gesellschaft in zehn Bereiche auf, darunter Bildung, Finanzen, Gesundheit, Kultur und Soziales. Sie nahmen sich vor, jeden der Teilbereiche mit mindestens drei Berufen zu porträtieren. "Wir filmen Leute an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Arbeitskleidung, die Anekdoten aus ihrem Beruf erzählen", erklärt die Filmstudentin.

Das Filmprojekt ist wie eine langfristige soziologische Studie angelegt, die öffentlich publiziert wird. "Um uns als Gesellschaft durch das Geschichtenerzählen besser zu verstehen", wie die beiden Dokumentaristen die Intention ihrer Serie formulieren. Alle Episoden sind gleich aufgebaut. Sie widmen sich einem Menschen, dauern zwischen drei und fünf Minuten, keine Fragen werden gestellt. Die Einstellungsgröße ist immer dieselbe und die Leute sprechen direkt in die Kamera. Die Person stellt sich und ihren Beruf kurz vor, sagt, was sie macht und warum. Dann schließt sie die Augen und markiert hierdurch den Übergangsraum zur Geschichte. Immer gibt es einen Spannungsbogen in der Story. Das, was die Leute zu erzählen haben, sind allesamt rührende, lustige und liebenswerte Anekdoten. Einige erzählen gerne. Das war bei dem Landwirt nicht der Fall. Er wisse keine Geschichte, sagte er anfangs. Mit einer kranken Kuh könne er nicht dienen. Dass dann aber doch eine der herzerwärmendsten Erzählungen der ganzen Serie dabei herauskam, damit hätten die zwei Serienmacher nicht gerechnet. Ohne etwas zu verbergen und verlieren, steht der 29-jährige Ludwig in seinem Kuhstall und berichtet davon, wie er durch einen tragischen Unfall seinen besten Freund verlor und an dessen Stelle den Bauernhof der Eltern übernahm. In seinem Gesicht sind in den wenigen Minuten alle Regungen zu beobachten - von Ergriffenheit und Trauer, als er über den schweren Verlust spricht, bis hin zu Freude und Zuversicht, mit der er in die Zukunft blickt. Die Tränen kann man sich beim Zuschauen kaum verkneifen. Die wahren Geschichten sind eben doch die besten.

True Stories, Vernissage am Do., 24. November, 19 Uhr, Ausstellung und Live-Storyteller, Fr. bis So., 25. bis 27. November, 19 bis 22 Uhr, Atelierhaus, Bavariastraße 6a, truestories-online.com

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