Dokumentarfilm:Sieben Stunden Nazi-Deutschland

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Das Bildmaterials von "Wer war Hitler" besteht durchweg aus originalem, zeitgenössischem Material, vierzig Prozent davon nach Angaben des Regisseurs noch nie gezeigt. (Foto: Filmfest München 2017)

Warschauer Ghetto und Menschen auf Sonnenterrassen: In Hermann Pölkings monumentaler Dokumentation "Wer war Hitler" kommt einem der Nationalsozialismus unheimlich nah.

Von Gustav Seibt

Im August 1939 gönnte sich ein frisch verheiratetes Leipziger Ehepaar namens Höse eine Kanufahrt die Oder hinab, von Ratibor nach Stettin. Höses waren moderne Zeitgenossen, sportlich, dazu auch technisch auf dem neuesten Stand: Herr Höse drehte einen Farbfilm, der seine Frau zeigte, die Umstände der Fahrt und immer wieder die schönen schlesisch-märkischen Landschaften an den Ufern. Höses waren "early adopters", frühzeitige Anwender der noch jungen Technik des Farbfilms. Frau Höse, eine selbstbewusste Frau in modisch weiten Hosen, scherzt unbefangen in die Kamera ihres Manns. An der Spitze des Kanus weht ein Hakenkreuzwimpel.

In Hermann Pölkings monumentaler Film-Text-Montage "Wer war Hitler" ist der kleine Privatfilm die Begleitung zu den sich überstürzenden Ereignissen, mit denen Hitler den Zweiten Weltkrieg auslöste: Tschechienkrise, Verhandlungen mit England und Frankreich, Abschluss des Pakts mit der Sowjetunion. Wie viel Höses davon auf ihrem Kanu mitbekommen haben, ist ungewiss. Sicher ist, dass sie Teil des großen Dramas waren: selbstbewusste, zeitgemäße, fröhliche und kraftstrotzende Menschen, die im Einklang mit dem Regime lebten. Junge Liebe, körperliche Fitness, schönes Deutschland, starker Führer: Unheimlich nah rückt das.

Die Festivalfassung dauert mehr als sieben Stunden - durchweg zeitgenössische Filmbilder

460 Minuten, mehr als sieben Stunden, dauert die Festivalfassung des Films. Es wird eine gekürzte Kinoversion und eine deutlich längere, zehn Stunden lange Fernsehserie aus Pölkings Material geben. Es besteht aus durchweg originalem, zeitgenössischem Material, vierzig Prozent davon nach Angaben des Regisseurs noch nie gezeigt, weitere zwanzig Prozent selten zu sehen. Der Rest ist bekannter.

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Jeder Bildabschnitt - der Laie würde "Schnipsel" sagen, die Macher des Film sprechen von "Icons" - ist mit einem gesprochenen Text unterlegt, entweder einer chronikalischen Angabe, die über die Ereignisse unterrichtet, oder mit einer zeitgenössischen Quelle, einem Augenzeugenbericht, einer Proklamation, einer Rede. Die Festivalfassung ist aus etwa 700 solcher Bewegtbild-Text-Einheiten zusammengesetzt, diese sind also in der Regel deutlich kürzer als eine Minute. Die Texte finden sich zum allergrößten Teil in einem monumentalen Quellenband, den Pölking parallel zu seinem Film herausgegeben hat ("Wer war Hitler. Ansichten und Berichte von Zeitgenossen", Bebra-Verlag, Berlin 2017, 783 Seiten, 36 Euro). Das Unternehmen ist ernsthaft und gründlich.

Hitlers originale Stimme ist zum ersten Mal in der 108. Minute zu hören, da hat der Film schon ein Viertel hinter sich. Davor werden Hitler-Zitate von Jürgen Tarrach gesprochen, in deutlicher Anverwandlung des gutturalen Tonfalls, mit minimal parodistischem Einschlag. Und dabei bleibt der Film auch weitgehend: Er enthält viele wörtliche Hitler-Zitate aus Schriftquellen, die sich gar nicht anders darstellen lassen; aber auch original erhaltene Reden lässt Pölking auffällig häufig von Tarrachs Stimme unterlegen.

Der Zuschauer wird also nicht unter die Überwältigungsästhetik der NS-Propaganda gezwungen. Keine stundenlangen exaltierten Brüllexzesse oder unentwegte Marschmusik, nicht ständig die beliebten Richard-Wagner-Ausschnitte und nur einmal Liszts "Les Préludes" für die Sondermeldungen aus dem Führerhauptquartier. Das Horst-Wessel-Lied (bei Youtube längst hunderttausendfach abgerufen) nur in einem Ausschnitt. Die eigene Klanguntermalung ist zurückhaltend, wenn es einen Dauerton gibt, dann ist es das ferne Jubelbrausen bei vielen Auftritten des Führers. Stuka-Krach nur selten, und damit ein Klangklischee weniger.

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Damit fällt eine einfache Distanzierungsmöglichkeit weg, das Befremden über die Hysterie der Epoche Hitlers. Ab 1934 sind Farbaufnahmen präsent, seit 1937 dann in wachsender Zahl, vor allem bei Amateurfilmern. Höses auf ihrem Kanu schwammen im Strom der Zeit. Das Deutschland, das wir hier sehen, wirkt viel näher als in den sonst oft zu sehenden dröhnenden Wochenschau-Bildern. Man denkt spontan an Heimatfilme aus den Fünfzigerjahren: Viele Menschen tragen Tracht, es gibt Tanzvergnügen oder Umzüge. Die Hakenkreuzfahnen sind grellrot über grauen Fassaden. Die Farben sind ein Zeitvernichtungsinstrument.

Farbig sind auch Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto, nicht unbekannt, aber selten gezeigt. Es gibt viele Farbbilder aus dem Russlandkrieg seit 1941, auch von den Massen russischer Gefangener, die zu großen Teilen dann verhungerten. Schwarzweiß hat man das oft gesehen, in Farbe verliert es deutlich an Abstraktheit. Oft folgen darauf Blicke in den Alltag im Reich, wo Menschen auf Sonnenterrassen sitzen, auch wenn im Hintergrund schon Ruinen zu sehen sind. Unheimlich nah.

Davor gab es Paraden, den Empfang Mussolinis in Berlin, die Münchner Kunstumzüge. Auf die Olympischen Spiele 1936 übrigens verzichtet jedenfalls die Festivalfassung, was kein Verlust ist. Am wenigsten überraschend sind Farbaufnahmen vom Berghof, Hitlers Alpensitz, wo er und Eva Braun es sich mit einer geschniegelten und zugleich lässigen Entourage gemütlich machten, oft feixend, mit Hunden spielend. Auch am Berghof war man early adopter, wie die Höses auf ihrem Kanu.

Der überwiegend streng chronologische Film beginnt ganz am Anfang bei Hitlers Geburt. Hier muss er auf alte Fotografien zurückgreifen, aber ihm kommt bald zu Hilfe, dass Österreich-Ungarn eine frühe Stätte der neuen kinematografischen Technik war. Straßenszenen, Monarchenauftritte, durchweg Außenaufnahmen, zeigen eine wohlhabende Welt mit prunkvollen Fassaden. Das Leichenbegängnis für den von Hitler verehrten, scharf antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger 1910 wurde filmisch dokumentiert. Hitler kam aus einer provinziellen Grenzregion, aber als junger Mann lebte er in quirligen Großstädten. Auch München ist vor 1914 so ein Ort, Schwabing gab es auch im Film.

Das aufschlussreichste Vergleichsunternehmen zu Pölkings Film sind Walter Kempowskis Textcollagen in dem "Echolot"-Projekt. Darin machte Kempowski den Versuch, aus Hunderten von Einzelstimmen ein kollektives Tagebuch des Zweiten Weltkriegs zu arrangieren. Natürlich war das ein Kunstwerk, zusammengeschmolzen aus Authentizität. Und so verhält es sich auch bei Pölkings Großwerk: Es hat Leitmotive, Kontraste, es setzt Hierarchien und erzeugt komische Effekte - etwa durch Zitate aus dem Tagebuch einer führergläubigen ostpreußischen Dame namens Henriette Schneider, deren unverstellte Torheit von der Sprecherin Erica Heller brillant vermündlicht wird.

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Was ist die Wirkung? Eintauchen und - jedenfalls beim Rezensenten, der allerdings mitschreiben musste - auch Ermüdung. Die Epoche rückt nahe, aber sie wird nicht vertraut. Gegen Ende steigert sich das Befremden über die Durchhaltebereitschaft der Deutschen in der offenkundigen Selbstzerstörung. Alle Fragen, die sich hier stellen, werden von der Geschichtswissenschaft seit Langem behandelt. Was wusste man von den Judenvernichtungen? Der Film zeigt Aufnahmen von Leichen, von Bergen von Habseligkeiten.

Die abgehackten Hände belgischer Kinder - damals eine bekannte Propagandalüge

Dazu ein Bericht aus dem Führerhauptquartier im Herbst 1944: Der Legationsleiter Franz von Sonnleithner spricht Hitler auf englische Presseberichte über Majdanek an, also direkt auf die Massentötungen von Juden. "Die Antwort kam rasch: ,Das sind die abgehackten Hände der belgischen Kinder während des Ersten Weltkrieges, nichts als feindliche Propaganda."' Das den Deutschen - seinerzeit zu Unrecht - vorgeworfene Abhacken von Kinderhänden in Belgien seit 1914 war jedermann noch geläufig als empörende Lüge.

Informativ und neu ist der Film nicht auf der Ebene von Biografie und Politik Hitlers. Doch er zeigt seine Welt, die Welt derer, die ihm folgten, die er verfolgte. Darum ist Pölkings Unternehmen, das in vielen Zügen rühmenswert ist, in einem fundamentalen Selbstmissverständnis gefangen. "Wer war Hitler" - diese Frage wird nicht beantwortet, sie kann so womöglich gar nicht beantwortet werden. Da helfen die Kapitelüberschriften ("Ein Kriegsverbrecher") auch wenig. Der Film bietet überwiegend geläufige Psychologie - gewalttätiger Vater, starke Mutterbindung, später Unnahbarkeit und Berührungsscheu -, während doch die dahinterstehende Kulturgeschichte das Interessante ist. Nicht die Unperson, sondern ihre Epoche.

Abwegig sind dramatisierende Bemerkungen wie gleich zu Beginn: Hitlers Geburt sei "ein Schicksalsschlag für Millionen Menschen in aller Welt" gewesen. Wer historische Kausalität so naiv konstruiert, müsste auch sagen, dass schon die Geburt von Hitlers Mutter so ein Schicksalsschlag war. Hitlers Eintritt in die Politik 1919 habe "weltgeschichtliche Bedeutung", raunt der Film. Nein. Diese Bedeutung ergab sich erst, weil Hitler in einem komplizierten, faktorenreichen Krisenprozess an die Macht kam. In solchen Momenten unterbietet Hermann Pölking seine enormen Kenntnisse, seinen oft bemerkenswerten Witz. Mit leichter Übertreibung könnte man sagen: Das ist gar kein Hitler-Film. Gott sei dank.

© SZ vom 23.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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