Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilm:Sie springen dich an

Lesezeit: 3 Min.

Filmische Mobilmachung: Peter Jackson zeigt in "They Shall Not Grow Old" den Ersten Weltkrieg in Farbe und 3-D. Historische Aufnahmen sehen aus wie frisch gedreht - allerdings vollkommen künstlich.

Von Martina Knoben

Schauen und Staunen sind das Wesen des Kinos. Die ersten Filme waren Dokus; sie zeigten Arbeiter, die aus einer Fabrik hinaus auf die Straße gehen, oder den berühmten einfahrenden Zug in La Ciotat. Dass man die Welt in Bewegung einfangen und an einem anderen Ort später wieder auferstehen lassen konnte, dass die Kamera und der Zuschauer mit demselben Auge blickten, muss ein überwältigendes Erlebnis gewesen sein.

Es ist keine kleine Leistung, dass Peter Jacksons Dokumentarfilm auf eine Weise verblüfft und mitreißt, die an die Frühzeit des Kinos erinnert. Das Konzept von "They Shall Not Grow Old" ist so simpel, wie die Umsetzung aufwendig war: Jackson zeigt historische Bilder des Ersten Weltkriegs, denen er die Ästhetik von heute verpasst - so will er die Distanz zu dem mehr als hundert Jahre vergangenen Krieg aufheben.

Aus oft zerkratzten, grobkörnigen, schwarz-weißen Archivaufnahmen, mittels Handkurbel mal mit 13, 15 oder 17 Bildern pro Sekunde gedreht, wurde ein farbiger, gleichmäßig dahinschnurrender, mit scheinbarem Originalton und einem Spannungsbogen versehener 99 Minuten langer Film. Leicht lässt sich heutzutage niemand mehr von vorgetäuschten Wirklichkeiten auf der Leinwand beeindrucken. Den Ersten Weltkrieg in Bildern zu sehen, die wirken wie frisch gedreht, ist dann aber doch ziemlich spektakulär.

Der oscarprämierte Regisseur, bekannt für die "Herr der Ringe"- und die "Hobbit"-Trilogie, hat dafür historisches Filmmaterial aus den Archiven des britischen Imperial War Museums zu einer Chronologie des Krieges und einem Frontbericht montiert. Das Museum hatte ihm die Zusammenarbeit angeboten, wie Jackson erzählt, mit der einzigen Auflage, respektvoll mit dem Material umzugehen.

Erst sind die Bilder noch schwarz-weiß, aber an der Front beginnt die filmische Moderne

Die Archivaufnahmen, die britische Kameramänner zwischen 1914 und 1918 drehten, hat er digital restauriert, koloriert und in 3-D konvertiert, außerdem die Laufgeschwindigkeiten vereinheitlicht und angepasst. Ergänzt werden die Bilder durch eine Collage von Stimmen, für die Jackson Interviews mit britischen Veteranen des Ersten Weltkriegs aus den Archiven des BBC und des Imperial War Museums ausgewertet hat. Die Aussagen der Soldaten begleiten die Bilder aus dem Off; manche Szenen wurden auch mit passenden Dialogfetzen unterlegt, Jackson hat dafür professionelle Lippenleser engagiert. Dazu kommen bisher fehlende Geräusche: einschlagende Granaten, das Wiehern von Pferden oder das schmatzende Geräusch von Füßen im Schlamm.

Hier zeigt die Illusionsmaschine Kino, was sie kann. Der Zuschauer ist mittendrin, wenn die Soldaten in den Schützengräben hocken, sich zahlloser Ratten und Läuse erwehren, für die Kamera posieren und ihre Mutter grüßen, und schließlich bei einer Offensive in den wahrscheinlichen Tod stürmen. Darf man das? Historisches Material in einem solchen Ausmaß manipulieren und überschreiben? Nach dem Schauen und Staunen stellt sich bald die Frage, was die Mobilmachung modernster filmischer Mittel jenseits der Illusion von Gegenwärtigkeit transportiert. Neue historische Erkenntnisse sind es nicht, auch wenn viele Archivfunde überraschen. Der Film will weder Kriegsmotive noch den Epochenbruch dieser Zeit analysieren. Es gibt nicht einmal Ortsangaben und Jahreszahlen.

"They Shall Not Grow Old" zielt vielmehr auf Überwältigung und Emotionalisierung. Der Zuschauer fühlt sich so orientierungslos der Apokalypse an der Westfront ausgeliefert, wie es ein Soldat damals womöglich erlebt haben mag (ein Interviewfetzen deutet in diese Richtung). Indem Jackson die Gesichter dieses Kriegs den unseren medial angleicht, sollen wir sie wie Zeitgenossen wahrnehmen. "Sie verschwinden nicht länger in einem Nebel aus zerkratzten, körnigen und zu schnell laufenden Filmen", hat Jackson im Interview erklärt. "Sie springen dich an." Er habe den Männern damit ihre Würde zurückgeben wollen.

Jackson zeigt die Soldaten häufig in "kleinen", trivialen Momenten; so betont er das allgemein Menschliche. Die Stimmencollage ersetzt die üblichen Talking Heads und Experten. Es sind viele Einzelne, die da sprechen, die in der Montage jedoch zusammenschmelzen. Die Filmbilder sind am Anfang noch schwarz-weiß, das passt zum Bajonettkampf, den die Rekruten trainieren, und zum Pflug auf dem Acker. Erst an der Front färbt Jackson sie ein und markiert damit den Sprung in eine hochgerüstete, mörderische Moderne. Der damals noch junge Film war Teil davon: Im Ersten Weltkrieg wurde die neue Volkskunst zum ersten Mal systematisch für Propagandazwecke benutzt. Wie das Material entstanden ist, die Rolle des Kinos zwischen Dokumentation, Unterhaltung und Propaganda, thematisiert Jackson aber nicht. "They Shall Not Grow Old" fehlt überhaupt jede Selbstreflexion.

Jackson hat den Film seinem Großvater gewidmet, der im Ersten Weltkrieg gekämpft und gelitten hat. Dass das Werk als Friedensappell gemeint ist, darf man voraussetzen, dennoch fasziniert er als Kriegsspektakel. Und auch die Annäherung an die Soldaten gelingt nur um einen hohen Preis - indem die Grenze zwischen Fiktion und Realität völlig verwischt wird. In den Zeiten von Deep Fakes ist das eine heikle Strategie. Die historischen Aufnahmen sehen zwar aus wie gestern gedreht, dabei aber vollkommen künstlich. Gerade weil sie so detailscharf und technisch auf der Höhe der Zeit erscheinen, erinnern sie an aktuellste Special-Effects-Filme - und rücken paradoxerweise wieder von dem weg, was wir als Realität akzeptieren.

They Shall Not Grow Old , GB/Neuseeland, 2018. Regie: Peter Jackson. Schnitt: Jabez Olssen. Verleih: Warner, 99 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2019
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