Dokumentarfilm:Helena Třeštíková

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Manche ihrer Protagonisten begleitet sie seit Jahrzehnten: Die Regisseurin Helena Třeštíková schaut in ihren Filmen dem Leben bei der Arbeit zu.

Von Julia Niemann

Die Protagonisten der Dokumentarfilmerin Helena Třeštíková leben mit ihr wie ihre Schatten. Sie rufen sie an, jeden Tag, und hinterlassen schlechte Nachrichten auf ihrem Band. Sie bestehlen sie, rauben ihre Wohnung aus. Und sie brauchen sie auch, brauchen ihre Aufmerksamkeit, ihre Kamera. Die tschechische Filmemacherin ist für ihre "Zeitraffer-Filme" bekannt, eindrückliche Porträts, meist von gesellschaftlichen Außenseitern. Darin begleitet sie ihre Figuren über Jahre und Jahrzehnte, so lange, bis sich die Momentaufnahmen zu Existenzen verdichten, bis sich aus dem gesammelten Material ganze Menschen schälen. Nach jedem Schnitt, jeder Schwarzblende können Jahre vergangen sein. Třeštíková untersucht dabei auch, was die Zeit mit dem Leben macht, wie viele Menschen ein Einzelner sein kann. Meistens erzählt sie Abstiegsgeschichten, komprimiertes Unglück. Manchmal finden sich in ihren Langzeitporträts aber auch kleine Evolutionen. Am bekanntesten ist ihr Film "René" (2008), dessen Held immer wieder im Gefängnis landet, meist wegen Diebstahl oder Raubdelikten. Auf seinem Hals trägt er ein Tattoo, dort steht in fetter, schwarzer Fraktur: "fuck of people". Renés Zuhause sind die regelmäßigen Gespräche mit der Regisseurin. Am Anfang noch ist er reines Objekt ihrer Kamera, später aber beginnt er zu schreiben - erst Briefe, dann Romane. Mit seinen Zeilen schreibt er sich auch in den Film ein und gewinnt damit die Autorenschaft seines eigenen Lebens wieder ein Stück weit zurück. Třeštíková filmt René heute immer noch, sie sagt, diese Arbeit wird wohl erst mit ihrem Tod enden. Durch die Langzeitbeobachtung erfährt man in ihren Filmen auch sehr viel über tschechische und tschechoslowakische Geschichte und darüber, wie tief sich der Ostblock-Blues in den Menschen festgesetzt hat.

Helena Třeštíková war für kurze Zeit tschechische Kulturministerin. Sie hat sich aber bald wieder dem Filmemachen zugewandt. Ihre Bilder über den Zustand der Gesellschaft sind eine andere, leisere Form von Politik. Ein Glück, dass ihre Filme dabei nicht zum Betroffenheitskino mit pädagogischem Zeigefinger werden. Das Berliner Filmkunst-Kino Arsenal zeigt noch bis 20. März eine umfassende Werkschau der Filme Helena Třeštíkovás.

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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