Dokumentarfilm:Gesamtkunstfigur

Film

Man soll ihn auch hassen dürfen, sagt der Entertainer im Film.

(Foto: Alexandre Isard / Verleih)

"Habe ich das etwa verdient, das Lob, den Reichtum?"Philipp Jedicke hat eine Doku über den Indiepop-Großkauz Chilly Gonzales gedreht. Endlich!

Von Annett Scheffel

Man soll ihn bitte auch hassen, nicht nur lieben, das sei ihm wichtig. Mit diesem Satz beginnt Philipp Jedickes Dokumentation über den Chilly Gonzales. Der Künstler spricht im schlecht sitzenden, rosafarbenen Anzug hitzige Beschwörungen in die Kamera, Botschaften an seine Fans: "Schaut mich an, habe ich das etwa verdient, den Erfolg, das Lob, den Reichtum?"

Chilly Gonzales ist Meister einer postmodern-performativen Scharade aus Exzentrik, ironischen Brechungen und Verwirrspielchen. Er ist vor allem ein Phänomen, eine Bühnenpersona, geschaffen von dem in Kanada geborenen Musiker Jason Beck. Er tritt gerne im Morgenmantel auf, ist Pianist, Rapper, Entertainer und Weltrekordhalter im Dauerklavierspiel. So oft hat sich Chilly Gonzales in den vergangenen 20 Jahren neu erfunden, dass er zwischen Pop, Jazz und Klassik einzigartig geworden ist. Man fragt sich schon, warum vor Jedicke noch niemand auf die Idee gekommen ist, sich filmisch in die künstlerischen Untiefen dieses Exzentrikers zu wühlen.

Philipp Jedicke tut jedenfalls gut daran, nicht den Menschen hinter der Kunstfigur hervorzerren zu wollen. Sein Porträt ist ganz der Kunstfigur Chilly Gonzales gewidmet, nicht Jason Beck. Er zeigt einen Mann, in dessen heutiger Existenz beide untrennbar ineinander verwachsen sind.

Mit leichter Hand durchmisst Jedicke Gonzales' Leben und Karriere als eine Aneinanderreihung von Bühnensituationen, verknüpft Archivmaterial und Konzertaufnahmen mit inszenierten Szenen und Interviews mit Weggefährten wie Peaches, Leslie Feist oder Jarvis Cocker. Die Schriftstellerin Sibylle Berg schlängelt sich mit klugen Fragen in die Gedankenwelt des Künstlers. Gonzales berichtet ihr von seiner Kindheit in Montreal und dem Geschäftsinstinkt seines Vaters, eines reichen Bauunternehmers, erzählt vom Umzug ins Berlin der Jahrtausendwende und seiner radikalen Verwandlung vom Electroclash-Rapper zum Komponisten zarter Pianostücke.

Der Film schafft es, dabei in den irren Eklektizismus und Witz seines Protagonisten einzutauchen. Weil er im Grunde so ist wie sein Protagonist selbst, vielseitig und ein bisschen durchgeknallt, weil er unterhalten will und den Zuschauer gerne an der Nase herumführt, statt eine Biografie nachzuerzählen. Am Ende sucht der Künstler in einem Casting nach Doubles. Er habe keine Lust, sein ganzes Leben lang Chilly Gonzales zu sein, sagt er, Schauspieler würden für dessen Inszenierung sicher genügen. In Wirklichkeit, das weiß man nach dieser Dokumentation, ist natürlich das Gegenteil der Fall. Wirklich Chilly Gonzales sein, das kann nur Chilly Gonzales.

Shut Up and Play the Piano: Deutschland/Frankreich 2018. Regie und Buch: Philipp Jedicke. Kamera: Marcus Winterbauer, Marcel Kolvenbach. Schnitt: Kenk Drees, Carina Mergens. Mit: Chilly Gonzales, Sibylle Berg, Peaches, Leslie Feist, Jarvis Cocker. Rapid Eye Movies, 82 Minuten.

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