Pandemiebedingt findet das Münchner Dokfest auch in diesem Jahr digital statt. Zu sehen sind 131 Filme aus 43 Ländern - hier ein paar Tipps aus der SZ-Redaktion.
The Last Hillbilly
Alle wissen, wie wir Hillbillys sind, sagt Brian Ritchie nachts am Lagerfeuer und streicht versonnen seinen Ziegenbart: "Arm, dumm, ungebildet, gewalttägig, rassistisch, aus Inzucht hervorgegangen. Und es ist alles wahr." Der Film "The Last Hillbilly" wird dann eher das Gegenteil zeigen, in sanften, wie aus der Zeit gefallenen Bildern, aufgenommen in den Wäldern und Bergen Kentuckys. Brian Ritchie ist Poet, er liebt das Rätselhafte und Uneindeutige der Sprache, die bei ihm um Heimat und Identität kreist, Armut und Ausbeutung, Zukunftslosigkeit und Verlorenheit. Die französischen Dokumentarfilmer Diane Sara Bouzgarrou und Thomas Jenkoe suchen nach der Wahrheit hinter dem Klischee vom weißen Trash in den blauen Hügeln, hinter der Legende von den Bergleuten aus den Kohleminen, die heute im Blick der Welt nur noch arbeitslos sind, abhängig von Opiaten, anfällig für Demagogen wie Donald Trump. So haben sie dann Brian Ritchie gefunden, der am Anfang vor allem seine Gedichte rezitiert, zu Bildern eines Alltags in Armut und in der Natur. Ein rein poetischer Essay wird der Film dann aber nicht, denn die Kinder übernehmen und bringen Direktheit hinein, süße sommerliche Langeweile und Fantasie etwa bei der Beerdigung eines Fisches, der tot im Flüsschen schwimmt. Und Brian Ritchie ist der Vater, der um sie bangt, ob sie wohl tough genug sein werden für dieses Leben. Tobias Kniebe
The Rossellinis
Tante Isabella ist sauer, und plötzlich ist alles anders herum, steht der Filmemacher selbst im Mittelpunkt seines Films. Ich kam mir vor wie eine unschuldige Idiotin, die von einem Junkie ausgenutzt wurde, erklärt Isabella ihrem Neffen Alessandro Rossellini, der sie befragen will für seinen Film "The Rossellinis", über die Familie seines Großvaters - Roberto Rossellini, eines der wichtigsten Filmemacher des italienischen Neorealismus. Ein Mann von genialischer Dynamik, gewaltigem Verlangen nach Unabhängigkeit, in dessen Schatten die Familienmitglieder sich schwer tun sich zu profilieren. Ein bizarrer Familienfilm. Das Familienleben eine Soap, und auch die Recherche darüber gehört dazu. Isabella und Alessandro stauben fröhlich das Urnengrab ab. Besuch beim immer noch jugendlichen Sohn Robertino - far too beautiful to be intelligent? -, der glücklich auf einer schwedischen Insel im Haus der Mutter lebt: Ingrid Bergman, Rossellinis zweite Frau, ihre Liebe war ein Skandal in den Fünfzigern. Die dritte Frau war die Inderin Sonali Das Gupta, auch da gibt es Kinder und Verwandte. Das Genialische hält sie alle gefangen, die Rossellinitis. Fritz Göttler
The Case You
Ein Probenraum, fünf junge Frauen, zum Teil haben sie einander lange nicht gesehen. Was sie verbindet, ist eine Erfahrung, die sie lieber vergessen würden und nun vor der Kamera besprechen. Was junge Schauspielerinnen und Schauspieler beim Casting durchmachen, bleibt meist diffus. Irgendwie spukt die Besetzungscouch in den Köpfen und die Vorstellung, auf die Rolle zu verzichten, sei doch eine Option gewesen. Was Alison Kuhn hier sehr junge Schauspielerinnen in "The Case You" schildern lässt, ist dann ernüchternd klar. Erst denkt man: Ein Massencasting, was kann da schon passiert sein? Eine ganze Menge. Es ging um die Rolle einer 15-Jährigen in einem Film über Missbrauch, und die Bewerberinnen wurden einem Regisseur, einer Produzentin, älteren Schauspielern ausgeliefert: Die fünf schildern, wie sie in ein Spiel hinein gedrängt wurden, bei dem bald nicht mehr erkennbar war, wo der Ernst anfängt - vom Regisseur, der Produzentin, anderen, viel erfahreneren Schauspielern, Namen werden nicht genannt. Dann erzählen sie, dass diese alte Geschichte aktuell bleibt, weil die nackten Seelen und Körper dabei gefilmt wurden und dann in einem Dokumentarfilm landeten - besser kann man Machtmissbrauch kaum erklären. Susan Vahabzadeh
This Rain Will Never Stop
Gebirge, Fluten, Militärparaden und darüber ein Himmel, so dramatisch wie je ein Wolkenungetüm von Ansel Adams: Alina Gorlovas Menschheitspanorama "This Rain Will Never Stop" lässt den Einzelnen verzwergen vor dem ewigen Wogen von Werden und Vergehen. Ihr Film erzählt die Geschichte des Kurden Andriy Suleiman, der aus Syrien in die Ukraine flieht, dort für das Rote Kreuz arbeitet, in den Krieg in der Ostukraine gerät und dann zurück nach Syrien will. Aber das ist gar nicht so einfach. In knisternd tiefenscharfem Schwarzweiß blitzen Szenen einer zersplitterten Familie auf. Andriy auf der Hochzeit seines Bruders in Hamburg, bei einer Reise ins irakische Kurdistan, wo er so fremd ist wie in Luhansk, bei der Überführung seines toten Vaters nach Syrien. Man sieht ihn in den Armen seines Onkels im Irak, der den Gast mit Tränen und Küssen überschüttet, sieht verstümmelte, versehrte Kämpfer bei der Physiotherapie. Der Mensch ist ein wundes, wehes Nichts in einer erbarmungslosen Welt. Aber ohne ihn wäre diese Welt noch erbarmungsloser. Wem gerade der Sinn nach biblisch-monumentalen Bildern zu den großen Fragen steht, der ist hier sehr richtig. Sonja Zekri
Monobloc
Manchmal sieht man sie noch, diese Plastikstühle für knapp fünf Euro, meistens weiß, fast immer mit einem Lochmuster in der Rückenlehne. Sie stehen auf Balkonen, auf Terrassen, vor Imbissbuden und stapelweise im Baumarkt. Aber so richtig will sie in der westlichen Welt eigentlich niemand mehr haben. Sie sind aus Plastik, und das ist böse. Sie sind billig, also nicht begehrenswert. Der Film von Hauke Wendler ist eine Ehrenrettung für den "Monobloc", das meistverkaufte Möbelstück der Welt. Etwa eine Milliarde seiner Art wurde seit den Siebzigerjahren weltweit verkauft. Wendlers Filmteam reist um die ganze Welt, nach Uganda zum Beispiel, wo arme Leute kostenlose Rollstühle mit Monobloc-Sitz bekommen; nach Indien, wo sie für viele die einzige Möglichkeit sind, überhaupt ein Sitzmöbel zu besitzen. Und, per Found-Footage-Video, ins Frankreich der Vergangenheit, wo Henry Massonnet den Plastikstuhl aus einem Guss Anfang der Siebziger erfand und große Ambitionen für ihn hatte: Er sollte ein Lifestyle-Produkt werden, auf dem man, erschöpft vom Tennis, einen Cocktail schlürft. Was die Doku schafft: Sie erzählt nicht nur Designgeschichte, sondern ist zugleich eine Übung in ästhetischer Demut, weil sie die Rolle des Monobloc auch in der nicht so reichen Welt beleuchtet. Kathleen Hildebrand
Menschenskind!
Jetzt liegt sie da, Kissen unterm Hintern, der Samenspender hat das Zimmer verlassen, Facetime mit der Mutter, die bald Großmutter sein wird. So beginnt das Leben der Nelly Belobrovaja, und so beginnt die Doku ihrer Mutter, der Künstlerin und Regisseurin Marina Belobrovaja. Der Film "Menschenskind!" erzählt von Kindern, die dank Samenspenden geboren wurden, Nelly wächst über Jahre vor der Kamera auf. Klingt nach Rührstück, aber dafür geht die sowjetisch-israelische Filmemacherin viel zu hart mit sich selbst und anderen ins Gericht. Sie hat einen feinen Film gemacht, der das große Glück, aber Verletzungen nach Samenspenden offenlegt. Sie besucht eine Frau, die selbst auf diese Weise entstanden und bebend wütend ist. Warum niemand darüber nachdenke, wie sich das anfühle, als Kind: Da wo andere einen Vater haben, nur Disinteresse zu spüren. Sie besucht eine Frau, die keinesfalls ein Kind will, ihren Mann als Vater an ein lesbisches Paar vermittelt und es dann mit der Angst zu tun bekommt. Und da ist ihre Tochter Nelly, eines von "etwa 60" Halbgeschwistern, die über Jahre vor der Kamera groß wird. Dass man nach 80 Minuten das Gefühl hat, der Familie Belobrovaja sehr nah gekommen zu sein, liegt auch daran, wie die Mutter das Muttersein mit kippender, wackelnder, draufhaltender Kamera einfängt. Unvorhersehbar, lustig, beklemmend, nerventötend, wunderschön. All das erlebt sie im Kondensat, so als einziger Elternteil. Laura Hertreiter