Doku über Katastrophenfälle:Testeinsatz im Giftnebel

Der Dokumentarfilm "Master of Disaster" zeigt, wie Behördern sich mit Katastrophenübungen auf den Ernstfall vorzubereiten versuchen.

Von Philipp Bovermann

Die Falle schnappt zu. Ein Tischtennisball hat sie getroffen, auf ihr liegt ein weiterer Ball, der nun in die Höhe geschleudert wird. Der erste Ball aber hüpft weiter, löst zwei andere Fallen aus. Für einige, merkwürdig lang erscheinende Sekunden ist lediglich etwas Bewegung in dem Glaskasten, in dem unzählige Fallen säuberlich nebeneinander stehen, ein paar Bälle sind in der Luft, hier und da schnappt eine Falle zu - doch dann bricht rasend schnell die Hölle los. Man sieht: Ordnung. Unordnung, die exponentiell zunimmt. Dann Chaos. Krise. Man sieht die Gegenwart.

Der Mann, der den Tischtennisball geworfen hat, lacht vergnügt. "Meine Herren! Am Anfang sah es so aus, als würde das nicht losgehen. Und jetzt ist ein Riesenchaos." Das Riesenchaos zu simulieren, darum geht es im Dokumentarfilm "Master of Disaster". Er begleitet Katastrophenschützer, Experten für Krisen und Notfälle aller Art, Menschen also, die versuchen, in den Griff zu kriegen, was man eigentlich nicht in den Griff kriegen kann. Der Mann mit den Tischtennisbällen heißt Dirk Helbing, er berechnet an der ETH Zürich soziale Prozesse mithilfe von Computermodellen. Auch andere Experten dürfen schlaue Dinge über "komplexe Systeme" erzählen, über die zunehmend vernetzte und dadurch für Kaskadeneffekte anfällige menschliche Gesellschaft, über kleine Ursachen und große Wirkungen; in erster Linie verlassen sich die Regisseure Jörg Haaßengier und Jürgen Brügger aber darauf, dass es verflucht gruselig aussieht, wenn der Alarm heult und Rettungskräfte sogenannte Großlagen üben.

Massenmigration, Terrorismus, Krieg kommen zwangsläufig näher, sagt der Experte

Was sie dabei für einen inszenatorischen Aufwand betreiben! Der aufgeklebte Ast, der dem alten Mann aus dem Bauch ragt, wird extra noch mit roter Farbe eingepinselt. Beim Abtransport aus dem verunglückten Zug schreit ein Verwundeter vor gespieltem Schmerz. Eine junge Frau klopft von innen an ein Fenster, als ginge es um ihr Leben. Die Kamera nimmt das alles mit eiskalter Distanz auf. Sie friert das nur Gespielte, das Unechte, das Unfassbare fest, während die menschlichen Retter, klein und verletzlich, in die Filmtableaus hinein- und wieder hinauseilen.

Master of Disaster"

Das Riesenchaos auch als Modell zu simulieren, darum geht es im Dokumentarfilm „Master of Disaster“.

(Foto: Filmtank Audience)

Blaulicht füllt den leeren Raum im Bildaufbau, in dem sich Spuren echten Schreckens zusammenbrauen. Beim Abtransport der Verwundeten rauscht er durch die Bäume am Straßenrand. Menschen in Schutzanzügen tasten sich langsam durch künstlichen Giftnebel im DB Regio voran. Hubschrauber knattern über Vorstadthecken hinweg. Gerade sahen sie noch so idyllisch normal, so behaglich langweilig und deutsch aus, dann plötzlich ist die Fiktion über sie hereingebrochen. Anders als in klassischen Filmfiktionen weiß man vorher aber nicht, wer sterben wird (unsympathische Nebenfiguren), wer versorgt werden kann und für wen es nicht mehr reicht. Man hat es vielmehr mit einer behördlich geplanten Fiktion ohne echten Autor zu tun, die gar nichts erzählen soll, deren Verhältnis zur Realität technisch ist: Profis spielen das Undenkbare durch, um zu überprüfen, wie viel sie von der Realität retten können, bevor diese ganz zerfällt.

"Master of Disaster" ist also ein Dokumentarfilm und trotzdem ein Horrorfilm im durchaus klassischen Sinn. Denn Horror setzt ein, wenn das Reale - etwas, das so echt ist, dass man es sich nicht mehr vorstellen kann - in eine auf gemeinsame Vorstellungen gründende Wirklichkeit hereinbricht. Eine Wirklichkeit, die dieses Reale verdrängt, die Frage von Leben und Tod beiseiteschiebt, um leben zu können.

Oder vielleicht handelt es sich doch nur um einen Dokumentarfilm, und es ist die Realität, die durch Covid-19 in den Ernstfall eingetreten ist? Vielleicht rührt daher diese eigentümliche Spannung, diese Flüstersprache in den Bildern. Möglich wäre aber auch, dass die gegenwärtige Krise zwar entsetzlich, aber noch gar nicht der Ernstfall ist, der hier im Grusel-Kunstgewand der Großübung aus dem kollektiven Unterbewussten heraufdämmert. Dirk Helbing, der Simulationsexperte mit den Tischtennisbällen, spricht darüber, dass der nicht nachhaltige Lebensstil der Menschheit, und besonders ihrer privilegierten Vertreter, mit mathematischer Zwangsläufigkeit Massenmigration, Terrorismus, Krieg heraufbeschwören wird, wenn er sich nicht rasch grundsätzlich ändert. Diese Dinge, sagt er, rücken jeden Tag näher.

Master of Disaster"

Behörden versuchen, das Nichtplanbare zu planen.

(Foto: Filmtank Audience)

In diesem Sinn ist das Auftreten des Coronavirus, plötzlich und wie aus dem Nichts, vielleicht sogar eine gute Nachricht, wenn auch in einem makabren Sinn: Es beweist, dass sich die Zukunft eben nicht in den Griff bekommen lässt, auch nicht mit aller staatlichen und technischen Gewalt. Das Unbekannte, Unberechenbare kann in komplexen Systemen jederzeit losbrechen, wenn die Falle erst einmal zuschnappt.

Master of Disaster, D/CH 2019 - Regie: Jörg Haaßengier, Jürgen Brügger. Kamera: S. Hill, P. Künzli. Filmtank, 79 Min. Neu auf kino-on-demand.com.

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