Als Kind hatte er immer gedacht: Die Welt ist doch so groß. Er hatte nicht verstehen können, wieso sich ein gesuchter Verbrecher nicht einfach irgendwo versteckt, wo ihn niemand findet. Allein der Wald hinter seinem Haus war so groß, dass er darin hätte verschwinden können, solange er nur wollte. Aber er hatte auch Angst vor diesem Wald, und so war er insgeheim froh, dass er nie verschwinden musste. Denn die Angst vor der Dunkelheit, dem Rascheln und dem Flüstern wäre immer größer gewesen als vor allem, vor dem er sich hätte verstecken müssen.
Er saß im Auto zwischen Fishtown und Harper. Es war bereits der dritte Tag in diesem Auto. Die Makadam-Straße wand sich durch den Dschungel wie eine rostrote Wunde, und nach jedem Hügel kam der nächste Abschnitt, der aussah wie der letzte. Bei jedem Lastwagen und jedem UN-Jeep, die entgegenkamen, musste man die Fenster zukurbeln, um nicht völlig eingestaubt zu werden. Seine Haare hatten die Farbe der Straße angenommen und fühlten sich klebrig und verfilzt an. Die Schlaglöcher kamen in regelmäßigen Abständen, und tiefe Rinnen, verursacht von den täglichen Regenschauern, querten den Belag.
Filmprojekt von Michael Glawogger:Vom Zauber des Augenblicks
Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Michael Glawogger ist zu einer ungewöhnlichen Reise aufgebrochen: Ohne Script und ohne Plan will er sich ein Jahr lang um die Welt treiben lassen und spontan alles Interessante aufnehmen. Mit dabei ist Süddeutsche.de: Der Filmemacher berichtet über seine Abenteuer im Doku-Blog.
Die Dörfer, die auftauchten, boten Mal für Mal ein ähnliches Bild: Menschen, die vor ihren Häusern saßen, Kinder, die fröhlich kreischend winkten, schwarzes, geröstetes oder geselchtes Bushmeat, das in großen Stücken an Holzstäbe geknüpft war, Männer mit Macheten und geschulterten Jagdgewehren, Frauen mit auf den Rücken gebundenen Babys, Mechaniker, die unter rostigen Autos lagen, alte Frauen mit muskulösen Oberarmen, die Holz nach Hause trugen - und dann wieder verbrannter Wald, hohe grüne Bäume und Vögel, die aussahen, als hätten sie einen weißen Hut auf, träge schwebende Geier und Schwärme von Schwalben, die aufgeregt über Reisfeldern kreisten. Hier müsste man sich doch verstecken können. Wo, wenn nicht hier?
Aber er war weiß, weiß und fremd. Er gehörte nicht hierher. Er könnte zwar lange unbemerkt durch den Wald streichen, würde aber doch irgendwann auf ein Dorf stoßen, und selbst wenn er eine Zeitlang dort bleiben könnte, beherbergt und gefüttert würde, käme doch irgendwann ein Polizist, und wäre dann sein Pass nicht mehr in Ordnung, und könnte er nicht erklären, warum er hier sei, würde er in seine Welt zurückgereicht werden wie jeder andere auch. Die Welt ist also doch zu klein, um sich zu verstecken. So sehr er es auch durchdachte, es gab wohl nirgendwo einen Ort, wo man hinkonnte, um unsichtbar zu werden. Es gab keinen Platz, der so abgelegen war, als dass man als Fremder keine Papiere gebraucht hätte. Und doch blieb der alte Kindergedanke in seinem Kopf hängen wie ein Lied: Die Welt ist so groß, man muss sich doch irgendwo verstecken können, wo einen keiner findet.
Nicht, dass er etwas verbrochen hätte oder vorhatte, etwas zu verbrechen. Aber die Möglichkeit des Verschwindens hatte in ihrer ganzen Abstraktheit etwas Verführerisches und Beruhigendes. Dann würde man das eigene Leben ganz woanders leben, mit einem anderen Alltag, anderen Schwierigkeiten, einem neuen Zeitgefühl, verwegenem Schmerz und ungeahntem Glück.
Er verwarf derlei Überlegungen gerade als kindisch, als er einen Buben am Straßenrand stehen sah, der ein totes Babykrokodil am Schwanz hielt, um es schüchtern und mit eben dieser stummen Geste zum Verkauf anzubieten. Er blieb stehen, und der Junge starrte ihn mit ähnlicher Verwunderung an, wie er das kleine Krokodil anstarrte. Er wollte es berühren, und der Bub versicherte ihm in wenigen Worten, dass das Fleisch eines jungen Krokodils besonders schmackhaft sei. Er wiederum wollte wissen, wie er es gefangen habe. Fünfundzwanzig Minuten von hier, am Ufer eines kleinen Flusses, habe er seine Fallen aufgestellt.
Es sei schwierig, aber manchmal gelänge es ihm, eines zu fangen und zu töten. Er wollte schon fragen, ob er denn keine Angst vor einem großen Krokodil habe - vor der Mutter vielleicht, die ihr gefangenes Baby suchen würde. Aber der Junge sah nicht so aus, als ob er sich vor irgendetwas da draußen im Wald fürchten würde. Ja, er konnte sich verstecken. Er würde, hätte er einmal etwas verbrochen oder wäre nur seines Alltags im Dorf überdrüssig, verschwinden können. Wahrscheinlich gelänge es ihm sogar leicht, die Grenze nach Guinea zu überqueren, ohne dass es irgendjemand bemerken würde. Aber sein anderes Leben wäre dann wohl nicht so anders. The crocodiles are not greener on the other side.
Die Fahrt ging weiter als Spießrutenlauf von Ermahnungen, wie sie nur ein Land nach einem blutigen Bürgerkrieg aussprechen kann. An jedem Ortseingang und an jeder Kreuzung waren große Schilder in verschieden Stadien der Verwitterung angebracht. Oft waren Bilder darauf gemalt, um den Inhalt auch jenem Teil der Bevölkerung nahe zu bringen, der nicht lesen konnte. Man wurde in eindrücklichen Worten oder Grafiken dazu aufgefordert, nicht anderen Menschen die Arme und Beine abzuhacken, keine Frauen zu vergewaltigen, sich nicht an den eigenen Kindern zu vergehen, seine Frau nicht zu schlagen (Don't beat on your woman, she is not your drum!), nicht in der Öffentlichkeit zu scheißen, sich auf HIV testen zu lassen und seine Steuern zu zahlen. Aus irgendeinem Grund schämte er sich für ein ähnliches Schild, das es in der Stadt gab, in der er lebte: "Nimm ein Sackerl für das Gackerl" stand da unter einem treuherzig dreinschauenden Kleinköter, der so aussah, als wäre er sowieso zu sauber, um überhaupt jemals geschissen zu haben.
Harper war dann jener Ort, an dem man sich vielleicht hätte verstecken können. Am Ende von Liberia, am südlichen Zipfel von Westafrika, am Ende eines blutigen Bürgerkrieges, am Ende eines Traumes (der Rückkehr der Sklaven aus den USA), angelegt in einer fast spielerischen Grandezza, weitläufig und verschlafen an einem beinahe unberührten Strand. Harper ist schwer erreichbar, und niemand außer ein paar wie aus dem Ei gepellten pakistanischen UN-Offizieren hat irgendeinen Grund, hierherzufahren.
"Bitte versteckt mich"
Doch kaum querte er die Straße vor seinem Hotel, um sich ein Haus anzuschauen, das nur mehr aus einem Stiegenaufgang und einem offenen Raum bestand, aus dem ein Baum wuchs, wurde er von zwei Beamten der Einwanderungsbehörde aufgehalten, die akribisch seine Berechtigung überprüften, hier zu sein. Sie notierten alle seine Daten mit Kugelschreiber auf ein weißes Blatt Papier. Nur unwillig wollten sie zur Kenntnis nehmen, dass alles seine Ordnung hatte.
Er stieg die Treppe des verfallenen Hauses hoch und hielt von den Resten des Balkons aus eine kleine Ansprache, die niemand hören wollte und auch niemand verstand. Nur eine junge Frau, die ein großes Mayonnaise-Glas voller Benzin auf der Schulter trug, blieb mitten auf der Kreuzung stehen und lächelte ihm zu, als er wie ein Irrer sein Anliegen vorbrachte: "Bitte versteckt mich, gebt mir ein Zimmer in einem eurer großen Häuser, von dem aus ich das Meer sehen kann, kocht mir Palaver Soup, redet mit mir, bis ich eure Sprache verstehe, und sagt niemandem, dass ich hier bin. Bis ich so lange da war, dass mich keiner mehr sieht."
Die junge Frau bekam einen Lachanfall, als sie ihn so sah, und das Mayonnaise-Glas fiel zu Boden. Um ihren Schmerz über den Verlust zu lindern, gab er ihr Geld. Geld ist das Einzige, hinter dem man sich verstecken kann. Der ehemalige liberianische Präsident Taylor hatte anscheinend nicht genug davon, um sich in Nigeria ein goldenes Versteck zu leisten, und sitzt jetzt in England in Haft - wohl für den Rest seines Lebens.
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