Süddeutsche Zeitung

Zwölfte Station in Boke, Guinea Conakry:Der Bettler

In Wahrheit gibt es nur drei Gründe, dem Berufsstand der Bettler kein Geld zu geben: Weil man keines dabei hat, weil man gerade keine Lust hat oder weil man die Bettlerin oder den Bettler auf den ersten Blick nicht leiden kann. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

In Wahrheit gibt es nur drei Gründe, dem Berufsstand der Bettler kein Geld zu geben: Weil man keines dabei hat, weil man gerade keine Lust hat oder weil man die Bettlerin oder den Bettler auf den ersten Blick nicht leiden kann.

Als er zum Auto zurückkam, war sein Fahrer in eine Debatte mit einem Uniformierten verwickelt. Der Mann war aufgeregt, und der Fahrer versuchte, ihn zu beruhigen, was nach einem Stakkato auf Pular gelang. Wenn diese Sprache der Fulani sehr rasch gesprochen wird, ist schwer auszumachen, ob es sich um einen freundlichen oder aggressiven Dialog handelt. Es wirkt, als würden sich zwei aufgeregt mit den Flügeln schlagende Vögel anzwitschern.

Als die beiden mit einer weit ausholenden Bewegung der Arme die geöffneten Handflächen aneinander klatschten und dann die Daumen nach oben hielten, war klar, dass man nach einem intensiven Meinungsaustausch zu einem vorläufig guten Ende gekommen war.

Der Fahrer hatte offensichtlich eine der Polizeisperren übersehen, die es hier vor und nach jeder Bezirksstadt gab und bei denen es darum ging, solange zu kontrollieren, bis ein Grund gefunden war, dem diensthabenden Beamten Geld geben zu können. Und zwar ohne selbst das Gesicht zu verlieren oder den Beamten dumm ausschauen zu lassen.

Meist ging es um das Pannendreieck. Seit ein paar hundert Kilometern wusste er, dass es in Guinea Gesetz war, zwei solche dabeizuhaben. Eigenartigerweise legten die lokalen Lastwagenfahrer immer sechs bis acht abgebrochene Zweige auf die Straße, wenn sie eine Panne hatten. Aber das galt dann wohl als acht Pannendreiecke. Ja, so musste es sein. Ein Kleinbus brauchte zwei Pannendreiecke, ein Lastwagen acht.

Er spielte sogar mit dem Gedanken, das nächste Mal Zweige herzuzeigen, wenn er nach dem Pannendreieck gefragt wurde, aber schon sein Fahrer fand das nicht lustig. Stattdessen galt es, mit einer halbwegs erträglichen Summe für beide davonzukommen.

Das Spiel war ja auch ein durchaus gerechtes. Die Polizei wurde hier praktisch nicht bezahlt, außer dass man ihr Uniformen gab, und wenn schon ein Weißer vorbeikam, dann hatte er allein für seine bloße Anwesenheit eine Abgabe zu entrichten.

Anrecht auf ein anständiges Trinkgeld

War einmal ein Beamter damit aus der Bahn geworfen, dass alles stimmte mit den Papieren und dem Fahrzeug und er nicht wusste, was er hätte verlangen können und sogar vergaß, die ortsübliche Maut zu erfinden, dann tat er einem fast leid und man suchte sofort nach Geschenken für den Mann. Denn schließlich hatten diese Leute seiner Meinung nach mindestens so viel Anrecht auf ein anständiges Trinkgeld wie jeder Kellner in New York, der mit hochgezogenen Augenbrauen fragt, ob er die fünfzehn Prozent gleich draufschlagen soll.

Sie fuhren also zu dem Kontrollposten zurück, der wirklich einigermaßen versteckt in einer Senke vor der Stadt namens Boke lag, und wo sie ein missgelaunter Zollbeamter erwartete. Es gab ja - und nicht nur hier in Guinea, sondern schon seit Marokko - Polizei, Gendarmerie, Militär und Zoll.

Das war dann immer eine Art Spießrutenlauf. Immer, wenn man so eine Blockade überwunden hatte, war die Straße wieder mit einem Strick, an dem bunte Fetzen hingen, oder mit einer Schranke versperrt. Hier aber hatten sich Polizei und Zoll also zusammengeschlossen. Praktisch eigentlich.

Warum es im Landesinneren Zoll gab, hatte er sich zwar seit dem Senegal vorgenommen, zu fragen, war aber nie dazugekommen. Und jetzt, als Unwürdiger mit nur einem Pannendreieck, schien ihm diese Frage unangemessen.

Der Missgelaunte antwortete auf die Frage "Ça va?" mit einem Unheil verkündenden "Ça va pas". Den Rest verstand er nicht mehr, da er wieder in der Vogelsprache geführt wurde. Er kramte erst einmal im Handschuhfach nach allen Papieren, derer er habhaft werden konnte. Vor allem nach denen mit den vielen Stempeln.

Als er aufschaute, stand ein Mann um die vierzig vor seinem heruntergekurbelten Fenster und starrte ihn an. Er konnte den Blick zuerst nicht deuten. Vorsichtig irgendwie, neugierig auch, abwesend und doch fordernd.

Im ersten Moment hielt er ihn für einen weiteren Beamten, sah aber dann, dass der Mann unglaublich schmutzig war. Das war zuerst gar nicht auszumachen gewesen, da er ein schwarzes T-Shirt trug, das aber bei genauerer Betrachtung ganz steif war, wie der Panzer eines Insekts. Eine Spur aus getrockneter Kotze oder anderen verschütteten Substanzen zog sich über seine Brust. Er hielt seine Hose, der der Reißverschluss fehlte, mit einer Hand fest. Sein Geschlecht hing aus dem Hosenschlitz und war in ein schwarzes, geschickt verknotetes Plastiksackerl verpackt. So stand er da und schaute ihn an.

Es war klar, dass er Geld wollte, aber er hatte keine Sprache, das in Worten auszudrücken. Er konnte es nicht einmal mit seinem Blick formulieren. Also stand er nur da. Die beiden schauten einander an.

Die bloße Anwesenheit muss genügen

Ob hier einer den anderen erkannte als der, der er wirklich war, war nicht anzunehmen. Der eine war der Reisende, der andere der Bettler. Eigentlich eine klassische Situation, die oft offensiv, manchmal schüchtern und meist doch direkt fordernd von Seiten der Bettler geführt wird.

Dieser Bettler hier konnte das alles nicht mehr. Er hatte keine Tricks, keine Freundlichkeit, keinen ein schlechtes Gewissen machenden Blick mehr auf Lager. Er spürte wohl, dass seine bloße Anwesenheit, in dem Zustand, in dem er war, genügen müsste. Und das tat sie auch.

Reisende haben ja meist Angst vor Bettlern und reden sich tausend Gründe ein, warum man ihnen kein Geld geben sollte. Wollen wir einmal Unwissen über den Zustand der Welt (die sollen sich eine Arbeit suchen) oder surreale Schutzwälle (Angst, die Brieftasche zu öffnen) und emotionale Überreaktionen (ich würde ihm ja etwas geben, aber der vertrinkt es dann nur) beiseite lassen und zu komplexeren Fehlinterpretationen übergehen, wie der Warnung, dass vor allem bettelnde Kinder ja nur von einer Bettelmafia kontrolliert und ausgenützt (wenn nicht überhaupt versklavt) werden, und deshalb dürfe man ihnen nichts geben, sonst würde man ja diese Mafia unterstützen.

Da sitzt dann ein Reisender in seinem Auto, öffnet seine Brieftasche nicht und diskutiert noch mit den anderen Weggefährten den Sachverhalt, durch diese Art des "Nichtsgebens" die Welt vor der Mafia gerettet zu haben - und alle fühlen sich, als hätten sie das Richtige getan. Der Bettler hat trotzdem nichts, und die Mafia ist trotzdem nicht vor dem Weltverbesserungswillen des reisenden Bildungsbürgertums in die Knie gegangen.

Nur große Scheine

In Wahrheit gibt es nur drei Gründe, dem Berufsstand der Bettler kein Geld zu geben: Weil man keines dabei hat, weil man gerade keine Lust hat oder weil man die Bettlerin oder den Bettler auf den ersten Blick nicht leiden kann.

Er kramte also in seiner Hosentasche und fand dort nur große Scheine. Aber diesem Mann, der hier vor ihm stand, konnte er nicht nichts geben, also gab er ihm einen Schein, der selbst den missgelaunten Zollbeamten dazu gebracht hätte, ihm drei Pannendreiecke zu schenken. Dieser stritt währenddessen mit dem Fahrer darüber, ob auf einem Durchfahrtschein ein Stempel sei oder nicht. Der Fahrer sah einen Stempel, der Beamte sah keinen. Dass der Beamte so schlecht sah, kostete 10 000 Franc Guinea.

Der Bettler starrte ungläubig auf den Schein und bewegte sich nicht. Als sie wegfuhren, sah er ihn im Rückspiegel noch immer dort stehen. Er hoffte noch, dass der missgelaunte Beamte nichts vom Geld des Bettlers bemerken würde, als er sah, wie der Bettler, offensichtlich das Gleiche denkend, versuchte, den Schein einzustecken. Dabei ließ er seine Hose los, die herunterrutschte, und so stand er da mit seinem Plastiksackerl ums Geschlecht - in seinem plötzlichen Reichtum.

Sein Rausch an diesem Abend möge ihn mit sich reißen in eine Welle momentanen Glücks, dachte er noch, als sie in Richtung der nächsten Straßensperre aufbrachen.

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