Süddeutsche Zeitung

Doku auf Youtube:Blick in die offene Wunde der Maidan-Opfer

  • Der deutsche Autor und Filmproduzent Christian Seidel hat einen Film über die Hinterbliebenen der Opfer vom Maidan gedreht.
  • Seidel lässt darin die Angehörigen der von Scharfschützen Getöteten von ihrer Trauer und ihren Erinnerungen an ihre Verwandten erzählen.
  • Der Film hatte quasi kein Budget und ist frei auf Youtube zugänglich. Er ist nicht professionell gemacht, könnte aber gerade durch seine unvoreingenommene Art ein neues Genre der Dokumentation erschaffen.

Von Tim Neshitov

Wie filmt man das Leben nach dem Tod? Nicht das Jenseits, sondern das Leben der Hinterbliebenen? Das Handy etwa, in dem die wichtigste Nummer immer noch gespeichert ist, den trotz des Leids blauen Himmel, den Atem der Witwe, das Spielzeug der Kinder?

Der deutsche Buchautor ("Die Frau in mir") und Filmproduzent ("Diana - meine Geschichte") Christian Seidel hat im vergangenen Jahr Familien der Maidan-Opfer in der Ukraine begleitet. Seine Dokumentation "Himmlische Hundert" ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mit dem Schmerz der anderen umgehen kann. Es ist ein heftiger Film, denn es ist schwierig, anderthalb Stunden in all die offenen Wunden zu blicken.

Maritschka Pohorilko, eine Historikerin aus dem westukrainischen Lwiw, verlor auf dem Maidan ihren Verlobten Bohdan Soltschanik. Ein Scharfschütze schoss Bohdan am Vormittag des 20. Februar 2014 in den Hals. Bohdan unterrichtete in Lwiw Geschichte, er wurde 28 Jahre alt. Man sieht in dem Film eine Videoaufnahme, auf der Bohdan und Maritschka auf einer Feier miteinander tanzen. Man sieht Maritschka auf einer Gedenkveranstaltung 40 Tage nach dem Massaker. Jemand hat schwarz-weiße Broschüren mit den Fotos der Getöteten gedruckt, und Maritschka sagt: "Immer wenn ich in diese Broschüre schaue, hoffe ich, dass sein Foto nicht drin ist. Vielleicht ist er dann ja doch noch am Leben." Maritschka hat eine schöne Stimme, sie hat schon immer gerne gesungen.

Am Ende des Films singt sie "Oh Hügel, mein Hügel", ein ukrainisches Volkslied: "Es wird nie wieder so sein, wie es das erste Mal für mich war. Ich hätte nicht von meiner Mutter gehen sollen, über Berge, durch Wälder. Ich hätte nicht den lieben sollen, den ich liebte. Den mit den schwarzen Augenbrauen."

Seidel war während des Aufstands zufällig in Kiew

Christian Seidel, 56, ist mit einer Ukrainerin liiert. Als der Aufstand auf dem Maidan im vergangenen Winter begann, war er zufällig in Kiew, mit einer einfachen Touristenkamera. Er begann zu filmen. Viele Aufnahmen in dieser Dokumentation stammen von Seidel selbst, ein Teil stammt aus ukrainischen Fernseharchiven (vor allem die Schießerei der Scharfschützen vom 19. und 20. Februar). Einen weiteren Teil lieferte ein ukrainischer Kameramann. Der Schnitt, der Ton, die Gesamtproduktion wurden von Freiwilligen erledigt, der Film hatte quasi kein Budget.

Seidel selbst hatte bis dahin weder professionell hinter einer Kamera gestanden, noch Regie geführt, sondern war als Produzent in Erscheinung getreten. Das merkt man diesem Film an. Menschen werden bei einem Spaziergang interviewt, wobei sie auf die Kamera zulaufen und gleichzeitig sprechen müssen. Deuten sich Tränen in den Augen der Erzählenden an, wird auf diese Augen pflichtbewusst herangezoomt. Der Schnitt ist streckenweise erratisch.

Aber die Menschen, die auf dem Maidan starben, werden durch die Erzählungen ihrer Verwandten und Freunde derart lebendig, dass man als Zuschauer die handwerklichen Mängel vergisst. Seidel hört zu, voller Respekt und Zurückhaltung. Die Menschen öffnen sich. Seidel filmt die Schülerin Olha Schapowal dabei, wie sie wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters (18. Februar, Gruschewski-Straße, zwei Kugeln: eine in den Bauch, eine ins Herz) durch die mit Blumen übersäte Stadt geht und auf Plakaten mit den Gesichtern der Opfer jenes ihres Vaters sucht. "Mir wäre es leichter, wenn einer mein Gedächtnis auslöschen würde", sagt sie.

Improvisiert, mit kleinem Budget, kostenlos auf Youtube

Der Film wird nicht im Fernsehen laufen. Seidel sagt, er habe im Herbst mit ARD, Arte und BBC verhandelt, aber sich dann für einen Alleingang entschieden. "Die Sender wollten, dass ich eine Kontroverse einbaue, einen Spannungsbogen, dass ich auch mit Pro-Putin-Leuten spreche, der ganze Schmarrn. Und ich wollte einfach die Geschichten dieser Menschen erzählen. Sie selbst erzählen lassen. Zeigen, dass die Maidan-Opfer ganz normale Menschen waren und keine Faschisten, wie man sie in Moskau nennt, aber auch keine Helden, zu denen sie in der Ukraine stilisiert werden. Sie wollten sich nicht opfern, sie wollten leben."

Von diesem Donnerstag an kann man die Doku auf Youtube sehen, auf einem eigenen Kanal mit zusätzlichem Rohmaterial. Vielleicht wird es irgendwann auch eine ähnliche Doku über die entführten Mädchen von Chibok geben, und eine über die Passagiere des Fluges MH17, und eine über die Toten von Donezk. Das Konzept ist ganz einfach: zuhören, aufnehmen, zusammenschneiden. Ohne Spannungsbögen. Es geht unter die Haut.

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Quelle:
SZ vom 05.03.2015/dayk
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