Dokumentarfilm-Festival:Feierabend

Dokumentarfilm-Festival: Frauen an die Macht: Filmszene aus "Dragon Women".

Frauen an die Macht: Filmszene aus "Dragon Women".

(Foto: Dokfest München)

Zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung: Dokumentarfilme wie "Pornfluencer" und "We Are All Detroit" erforschen, wie die Zukunft der Arbeit aussehen könnte.

Von Martina Knoben

"Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein." Mit dem berühmten Gedicht von Andreas Gryphius - aus dem Jahr 1637! - beginnt ein Dokumentarfilm über den Wandel der Arbeit, beobachtet in den ehemaligen Autostädten Bochum und Detroit. Die Regisseure haben Einwohner dieser Städte Zeilen des Barockdichters lesen lassen, sie liegen ihnen fremd im Mund, die Erfahrung der Vergänglichkeit alles Irdischen aber haben auch sie gemacht: "Das klingt, als hätte er's verstanden", kommentiert einer. "Das klingt nach einem Depressiven", ein anderer.

Wie gehen Menschen damit um, wenn ihre Existenzgrundlage plötzlich wegbricht? Wie überleben Städte, die auf einen Schlag Zigtausende Arbeitsplätze verlieren? "We Are All Detroit" von Ulrike Franke und Michael Loeken, der von Donnerstag an in den Kinos läuft, zieht Parallelen zwischen der "Motor-City" Detroit mit ihren Geistervierteln und Bochum, wo auf dem ehemaligen Opel-Gelände ein "Innovationsquartier" mit dem markigen Namen Namen "Mark 51°7" entsteht. Sie treffen in Detroit urban gardeners und einen Schneider "perfekter" Jeans, beobachten in Bochum die Eröffnung einer DHL-Pakethalle mit 600 prekären Arbeitsplätzen. Ersetzen solche Projekte eine ganze Industrie?

Die Kids mit den vermeintlichen Traumjobs sind letztlich nur Handlanger reicher Firmen

Seit der Pandemie ist die Frage, wie wir künftig arbeiten wollen (und können), noch dringlicher geworden. Kommt die Viertagewoche oder der Fünfstundentag? Wird es endlich mehr Frauen in Vorstandsetagen geben? Was ist mit dem Recht auf Home-Office? Werden digital leader anders führen? "We Are All Detroit" blickt wehmütig auf das Ende des Industriezeitalters, als wäre die Arbeit im Stahlwerk oder in der Autofabrik immer nur schön gewesen. Ehemalige Gastarbeiter bei Opel wurden dazu nicht befragt.

Das bis 22. Mai laufende Dokfest München nennt wiederum eine seiner Filmreihen "Brave new work". Sie trägt das Dystopische so mancher Überlegung schon im Titel. Wie sieht sie aus, die schöne neue Arbeitswelt, die an die Stelle von Werkbank und Fließband tritt? Die Digitalisierung, so eine Erkenntnis der Filmemacher, hat nicht nur die Berufswelt selbst verändert, sondern die Vorstellung vieler Menschen, was überhaupt eine "gute" Arbeit sein kann.

Dokumentarfilm-Festival: Fast als wären sie allein: Jamie und Nico beim professionellen Amateursex in "Pornfluencer", vor der eigenen Kamera und der des Filmemachers.

Fast als wären sie allein: Jamie und Nico beim professionellen Amateursex in "Pornfluencer", vor der eigenen Kamera und der des Filmemachers.

(Foto: Dokfest München)

Jamie und Nico scheinen verwirklicht zu haben, wovon viele träumen: Sie müssen sich nicht mit lästigen Chefs abgeben und verdienen bombig - indem sie als "verified couple" den Sex, den sie miteinander haben, ins Internet stellen. "Pornfluencer" von Joscha Bongard zeigt sie bei der Arbeit und als Liebespaar, was fast dasselbe ist. Den Tag beginnen sie mit motivierenden Sätzen vor dem Spiegel: "Ich bin wunderschön", "Ich verdiene es, reich zu sein" oder "Jede Frau findet mich geil". Es folgen Fitnesstraining, der Dreh von Filmchen, ihre Nachbearbeitung und Posts in sozialen Medien: Sexy, aber jugendfreie Tiktok-Videos von Jamie sollen User auf Twitter locken, wo der nächste Link zu kostenpflichtigen Pornos der beiden führt.

"Pornfluencer" macht den Zuschauer auf produktive Weise ratlos, der Film ist zunehmend verstörend. Jamie erzählt, dass einige ihrer Freundinnen nicht verstehen konnten, warum sie Pornos macht, was Jamie wiederum nicht nachvollziehen kann: "Ich verdiene so viel Geld, mir geht's so gut, ich fühl mich frei, ich hab Nico - besser kann's mir nicht gehen." Nico sitzt währenddessen breitbeinig neben ihr (wer die Bedeutung des Wortes manspreading illustriert sehen will, kann kein besseres Beispiel finden) und ist erkennbar ihr "Chef". Aus der Pick-up-Szene kommend, hat er die damals 18-jährige, jungfräuliche Jamie zu den Sexfilmen überredet, die ihm erklärtermaßen mehr Spaß machen als ihr. Jamie aber scheint das kein bisschen zu stören.

Auch wenn das Sex-Geschäft eine Nische ist - Influencer, Youtuber oder Gamer sind die neuen Traumjobs vieler Jugendlicher. "Girl Gang" von Susanne Regina Meures begleitet Leonie, die als "Leoobalys" weit über eine Million Follower auf Tiktok hat. Als der Film beginnt, ist sie vierzehn, ihr Vater ist auch ihr Manager, das Leben der ganzen Familie dreht sich bald fast völlig um Leonies Styling, ihre Termine, ihre Werbeaufträge (in ihren Posts preist sie Mode, Kosmetik oder Fast Food an) und ihre Auftritte vor kreischenden Jugendlichen. Später hat die Familie einen eigenen Onlineshop.

"Dragon Women" erzählt von der Schwierigkeit, Topmanagerin und Mutter zu sein

Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung sind eins in dieser "schönen" neuen Arbeitswelt. Er lebe den Traum seiner Tochter, sagt der Vater, zu sehen ist aber auch - Jugendliche, bitte mitlesen! -, dass Leonie zunehmend unter Druck steht, sie kaum "reale" Freundinnen hat und auch mal sehr, sehr fiese Hasskommentare bekommt. Wie destruktiv Social Media werden kann, ist bekannt. Und es demonstriert auch ein Fan von Leonie: Melanie, deren unerwiderte "Liebe" zu ihrem Tiktok-Idol über Jahre ihr Denken und ihre gesamte Freizeit bestimmt.

Leonie und auch Jamie sind zwei Gesichter des digitalen Kapitalismus, an dem ja nicht nur Product Placement und Selbstvermarktung der Influencer stören. Dass die Kids mit den vermeintlichen Traumjobs nur Handlanger milliardenschwerer Firmen sind, wird erwähnt. Zudem vermitteln die Videofilmchen ein Bild permanenten Leistungs- und Selbstoptimierungdrucks, das sich mit Interessen- oder Solidargemeinschaften (wie etwa Gewerkschaften) nicht leicht zusammendenken lässt. Hat, wer immer nur in das Smartphone wie in einen Spiegel blickt, noch größere Zusammenhänge im Blick? "Girl Gang" und "Pornfluencer" sind pessimistisch.

Dokumentarfilm-Festival: Publikumsliebling: "Girl Gang" von Susanne Regina Meures.

Publikumsliebling: "Girl Gang" von Susanne Regina Meures.

(Foto: Dok-Fest München)

Dass Frauennetzwerke (und eine Frauenquote!) eine gute Idee sein könnten, vermittelt "Dragon Women" von Frédérique de Montblanc, der fünf Frauen in Führungspositionen im Finanzwesen porträtiert. Die Filmemacherin kommt den Managerinnen erstaunlich nahe: Sie erzählen von Männernetzwerken und Männercodes, in und mit denen sie agieren müssen. Von der Schwierigkeit (für manche: Unmöglichkeit), Topmanagerin und Mutter zu sein, von einem Leben, das beinahe aufgefressen wird von der Arbeit. Es sind eindrückliche Begegnungen mit faszinierenden Frauen - wirklich Neues aber erfährt man nicht. Und genau das ist das Schlimme daran, dass jeder weiß, wo die Fehler liegen und trotzdem nur wenig vorangeht.

An noch grundsätzlichere Fragen wagt sich "The Happy Worker" von John Webster. Er erkundet, warum so viele Beschäftigte unter Stress oder sogar Burn-out leiden, mit seiner launigen Kapitalismuskritik kommt er aber gedanklich nicht weit. Ergiebiger ist da schon Alexander Riedels "Nach der Arbeit", der Menschen begleitet, die bald in Rente gehen. Wie viel Sinn verleiht ein Schichtdienstleben im Stahlwerk? Das Fahren eines Busses, die Arbeit als Lehrerin, Serien-Darstellerin oder im Fischerei-Familienbetrieb? Und was kann die Lücke nach dem Ende der Erwerbsarbeit füllen? Volkswirtschaftliche Konzepte lassen sich aus Riedels Beobachtungen nicht destillieren. Aber sie werfen ein noch mal andereres Licht auf Konzepte wie die Viertagewoche oder den Fünfstundentag, öffnen - wo sich die Arbeit gerade so radikal wandelt - ein Feld für positive Utopien: Nach der Arbeit, wie wir sie kennen, könnte noch ganz viel kommen.

"We Are All Detroit" ist ab 12. Mai 2022 im Kino, alle übrigen Filme sind beim Münchner Dokfest zu sehen: bis 15. Mai in den Festivalkinos, bis 22. Mai deutschlandweit im Online-Programm.

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