Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Doğan Akhanlı:Der Versöhnungskünstler

Der Schriftsteller Doğan Akhanlı gehört zu diesen einzigartigen, unverzichtbaren Persönlichkeiten, die für spürbare atmosphärische Verschiebungen zum Guten sorgen. Jetzt ist er überraschend gestorben.

Von Insa Wilke

Doğan Akhanlı wurde 1975 mit siebzehn Jahren das erste Mal verhaftet. Das war der Anfang einer lebenslangen staatlichen Verfolgung. Zuletzt wurde Akhanlı, inzwischen deutscher Staatsbürger, 2017 in Granada seiner Freiheit beraubt. Er schrieb ein beeindruckend konzentriertes Buch darüber.

"Verhaftung in Granada" ist eine Autobiografie und Poetik, eine kurze Geschichte der Türkei im 20. Jahrhundert. Es ist eine passagenweise komödiantische Farce und zugleich eine quälende Auseinandersetzung mit dem Gefühl, an den eigenen Kindern schuldig geworden zu sein. Doğan Akhanlı ist mit diesem Buch ein Akt des Widerstands gelungen - und ein Plädoyer für das aufrichtige Leben.

Über Doğan Akhanlı wird oft gesagt, er sei ein stiller, ein bescheidener Mann. Was damit wohl gemeint ist: Er hörte zu. Nicht nur, wenn andere sprachen, Doğan Akhanlı hat in seinem Leben auch sich selbst zugehört, nach innen gelauscht. Viele Menschen vermeiden das, denn selten ist angenehm, was man sich selbst zu sagen hat. Die meisten leben in Situationen, in denen sie es sich leisten können, sich nicht zuzuhören.

Er versuchte früh, Erinnerungsräume zu öffnen und miteinander in Verbindung zu bringen

"Verhaftung in Granada" zeigt, dass seine Ohnmachtserfahrungen und die Schuldgefühle der Familie gegenüber an ihm nicht spurlos vorüber gegangen sind. Akhanlı zeichnet sich in dem Buch selbst, stellvertretend für viele andere, nicht als Helden, sondern als verletzlichen Menschen. Gerade deswegen zeigt dieses Buch auch: Er ist kein "stiller", kein "bescheidener" Schriftsteller. Er ist konsequent in der Wahl seiner Stoffe und ihrer formalen Umsetzung. Er ist mutig in der Art und Weise, wie er sich literarisch seinen Lebensfragen stellt, die für alle seine Leser relevant sind, ob deutsch oder türkisch, ob alt oder jung, wie und wo auch immer im Leben stehend.

Akhanlıs Schreiben prägt eine gesellschaftliche und politische Weitsicht, die wenige in so klaren, einfachen Sätzen ausdrücken können. Schon sehr früh, aus der eigenen Lebenserfahrung heraus, hat er die Notwendigkeit erkannt, Erinnerung an die Gewaltgeschichten im 20. Jahrhundert nicht nur national begrenzt zu denken. Er war damit in der Literatur jemand, der schon praktizierte, was Autorinnen wie Sasha Marianna Salzmann und Sharon Dodua Otoo heute noch immer nicht selbstverständlich, aber doch unangefochtener einfordern: die Erinnerungsräume zu öffnen und miteinander in Verbindung zu bringen.

Wer Doğan Akhanlı erlebte, wurde angerührt von seiner Liebenswürdigkeit, seinem Schalk und seiner tiefen Empfindsamkeit, und auch von seinem scharfen analytischen Verstand und dieser Beharrlichkeit, mit der er "brotkrumenklein" vielleicht, aber stetig die Gesellschaft veränderte und zum Handeln befähigte, ohne dass sie es selbst merkte. Denn Doğan Akhanlı gehört zu diesen einzigartigen, unverzichtbaren Persönlichkeiten, die für spürbare atmosphärische Verschiebungen zum Guten sorgen.

Es wäre dringend zu wünschen, dass ihn auch deutsche Verlage neu entdecken

Seine Romane und Theaterstücke, die in deutscher Übersetzung vorliegen, sind in ihrer literarischen Bedeutung bislang nicht erfasst worden. Auszeichnungen wie die Goethe-Medaille bezogen sich eher auf Akhanlıs kulturelles Engagement. Dabei ist es selbst in der Übersetzung erkennbar, dass Bücher wie "Die Richter des Jüngsten Gerichts" (der dritte Teil seiner Trilogie "Die verschwundenen Meere", die leider nicht vollständig auf Deutsch vorliegt), der Roman "Madonnas letzter Traum" oder auch sein Theaterstück "Annes Schweigen" nicht einfach nur relevant sind, weil ihr Autor den Genozid an den Armeniern, den Untergang des Schiffes Struma, das 1942 mit Hunderten jüdischer Flüchtlinge an Bord versenkt wurde, oder die Tragödie transgenerationell wirkender Traumata zum Thema macht.

Literarisch bedeutend sind seine Werke, weil er das Eingreifen von Gewalt in die Zeitstrukturen, die uns alle betreffen, ästhetisch umsetzt. Weil er eine Form für eine Erfahrung findet und sie so in seiner Sprache birgt. Über eine seiner zeitreisenden Figuren schreibt er: "Vielleicht war er ein Atem, der immer dann auf die Welt gehaucht wurde, wenn sich Gedächtnislücken auftaten."

Doğan Akhanlı war und ist so ein Atemhauch. Es ist dringend zu wünschen, dass einer der deutschen Verlage das noch erkennt und zum Beispiel seinen Roman "Fasıl" veröffentlicht, in dem er einen Folterer über dessen Hingabe zur klassisch türkischen Musik mit seinem Opfer in ein Gespräch verwickelt. Solche Bücher sind es, die, wie ihre Autoren, einen Unterschied machen.

Am Sonntagvormittag ist Doğan Akhanlı nach kurzer, schwerer Krankheit mit nur 64 Jahren gestorben.

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