Es sind nur noch wenige Tage bis zur Documenta, die nächste Woche eröffnet. Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin, hat alle Hände voll zu tun. Die frühere Chefin des Museums Castello Tivoli in Turin verspätet sich um vier Stunden, erledigt noch schnell ein lautes Telefonat, schließt die Tür ihres Kasseler Büros und bietet Goji-Beeren an.
Die Italo-Amerikanerin, Expertin für Arte Povera, leitete zuletzt die Sydney Biennale. Sie vertritt eine nachhumanistische Weltsicht und fordert ein Wahlrecht für Hunde und andere Nicht-Menschen. Am Ende dieses Streitgesprächs, das von der Höhlenkunst über die Kreativität der Erdbeere bis zur Software-Entwicklung für Finanzmärkte reicht, zeigt sich Christov-Bakargiev doch noch versöhnlich: Man möge wiederkommen, es gebe noch viel mehr zu diskutieren.
SZ: Bisher dachten wir, Kunst sei für Menschen da und mache seit der Höhlenmalerei den Menschen zum Menschen. Jetzt werden Sie Kunst für Tiere zeigen und loben auch "Werke nichtmenschlicher Produzenten". Warum?
Carolyn Christov-Bakargiev: Tiere machen auch Dinge. Ein Bienenstock oder ein Spinnennetz sind funktionale, künstliche Elemente der irdischen Kultur, die eine Form gefunden haben. Höhlenmalerei als Kunst zu bezeichnen, geht von unserem Kunstverständnis seit der Aufklärung aus. Das sind Ideen, die erst mit dem Bürgertum aufkommen, noch nicht mit dem Kunstschriftsteller Giorgio Vasari in der Renaissance und erst recht nicht mit den primitiven Menschen.
SZ: Aber auch nach Vasari und nach den noch älteren Kunstbegriffen ist Kunst immer für Menschen da, nicht für Tiere. Gibt es keinen Unterschied zwischen menschlicher Kunst und tierischen Erzeugnissen?
Christov-Bakargiev: Nein, absolut nein! Das ist eine menschenzentrierte Sicht. Natürlich gibt es zwischen allem fundamentale Unterschiede, zwischen meinem Glas Wasser und meinem Blackberry. Zwischen Ihnen und mir, aber es gibt auch wiederum keinen fundamentalen Unterschied. Einen Bienenstock zu bauen, hat auch einen höheren Sinn.
SZ: Man könnte also auch einen Bienenstock auf der Documenta ausstellen, ohne Zutun eines Künstlers?
Christov-Bakargiev: Der Philosoph Martin Heidegger hat gesagt, wir wissen, dass wir sterben müssen, die anderen Tiere nicht. Aber woher weiß er das? Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert großer Entdeckungen, wir entdecken etwa gerade die Sprache der Krähen. Es ist eine verrückte Idee, noch so, wie Sie es tun, über die anderen Tiere zu denken. Vögel bilden Züge am Himmel und fliegen über Tausende Kilometer und verständigen sich. Es gibt also Formen der Telepathie und eine Sprache der Tiere.
SZ: Und Sie wollen nun die Tiere und Pflanzen verstehen?
Christov-Bakargiev: Meiner Meinung nach dürfen sich in einer wahren Demokratie alle äußern. Die Frage ist nicht, ob wir Hunden oder Erdbeeren die Erlaubnis zum Wählen erteilen, sondern wie eine Erdbeere ihre politische Intention vorbringen kann. Ich will Tiere und Pflanzen nicht schützen, sondern emanzipieren. Früher hieß es, wir haben allgemeines Wahlrecht, aber die Frauen wählten nicht. Warum sah keiner den Widerspruch? Wenn man das Subjekt des Bürgers nur als männlich konstituierte, gab es ja tatsächlich allgemeines Wahlrecht.
SZ: Warum sollen Hunde wie Frauen wählen dürfen?
Christov-Bakargiev: Warum nicht? Gehört die Welt denn weniger den Hunden als den Frauen?
SZ: Sehen Sie keinen fundamentalen Unterschied zwischen Frau und Hund?
Christov-Bakargiev: Absolut nein! Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Frauen und Hunden oder zwischen Männern und Hunden. Auch nicht zwischen Hunden und den Atomen, die meinen Armreif bilden. Ich denke, alles hat seine Kultur. Die kulturelle Produktion der Tomatenpflanze ist die Tomate.
SZ: Wenn alles aus dem gleichen Stoff ist, was macht dann noch das Besondere der Kunst aus?
Christov-Bakargiev: Nichts. Nichts oder alles. Sie sagen, es gibt eine Verbindung zwischen Höhlenmalerei und Piet Mondrian, weil Sie aus der Kunstgeschichte kommen und nicht aus der Quantenphysik. Aber wenn Sie schauen, warum die Menschen Höhlen ausgemalt haben, unterscheidet sich das nicht unbedingt von den Gründen, aus denen eine Spinne ihr Netz baut. Es geht ums Überleben, um Nahrung und Genuss.
SZ: Wozu brauchen Hunde Kunst und einen eigenen Skulpturenpark?
Christov-Bakargiev: Das ist keine Kunst, wie wir sie definieren. Das ist ein Ort des sinnlichen und intellektuellen Genusses, ein Ort zum Denken. Auch Hunde denken! Wir zeigen auch einen Garten für Schmetterlinge. Der soll den Schmetterlingen gefallen, nicht den Menschen.
SZ: Aber wir kennen doch die Gedanken der Schmetterlinge nur bedingt. Wenn Sie das in den Bereich der Kunst bringen, besteht da nicht Kitschgefahr?
Christov-Bakargiev: Was meinen Sie mit Kitsch?
SZ: Sie haben einen Kalender mit Fotos der Hunde von Documenta-Künstlern herausgebracht, ist das kein Kitsch?
Christov-Bakargiev: Das war ein Spiel. Ich musste ein Marketingobjekt herausbringen, aber Marketing langweilt mich, also habe ich den Kalender vorgeschlagen, das ist aber kein Kitsch.
SZ: Wie unterscheiden sich Kitsch und Kunst?
Christov-Bakargiev: Kitsch kennt keine Ironie. Kitsch ist etwas mit schlechtem Geschmack, was jemand macht, ohne es zu wissen. Der Kalender ist kein Kitsch. Ich zeige ja nicht Bilder, die Schimpansen gemalt haben, das wäre paternalistisch. Das wäre, als wenn ein Mann für eine Frau wählen ginge.
SZ: Und eine Skulptur für Hunde zu machen, ist nicht paternalistisch?
Christov-Bakargiev: Das ist Zusammenarbeit mit Hunden, aber auch mit Gras, mit Material. Beim Skulpturenpark für Hunde geht es nicht um Ironie, sondern um Rückzug vom Spektakel. Um das Kommunizieren nicht mit Menschen, sondern mit anderen Tieren.
SZ: Kann alles auf der Welt Kunst sein?
Christov-Bakargiev: Alles kann Material für Kunst sein. Die Definition von Kunst, so wie ein Künstler über Kunst denkt, ist nicht in den Grenzen der Disziplinen zu denken. Ich denke nicht, dass die Werke der Menschen besser sind als andere Werke. Auch Ihr Körper steckt voller Bakterien, ist besetzt von anderen Lebewesen, Sie sind von anderen Realitäten durchdrungen. Ich teile nicht die Weltsicht der Moderne seit der Aufklärung, immer Kategorien bilden zu müssen. Den Impuls, Unterschiede zu definieren, teile ich nicht.
SZ: Ich bin ich und damit anders als meine Umwelt, ist dieser Impuls nicht Grundlage der Subjektivität und damit auch des kreativen Schaffens?
Christov-Bakargiev: Nein! Ich bin Feministin, ich glaube, das Subjekt ist ein kontinuierliches Sich-Durchdringen mit anderen, die sogenannten Subjekte sind auch Objekte. Nicht der Fußballer ist das Subjekt, der Ball entscheidet die Richtung, in die er fliegt. Sie sprechen vom Standpunkt der westlichen Philosophie aus, die interessiert mich aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Ich weiß nicht, ob ich ein Subjekt bin.
SZ: Welche Rolle spielt da noch die Kunst, wenn alles eins ist?
Christov-Bakargiev: Es kann sein, dass ein Softwareprogramm für Finanzinvestitionen Kunst ist in Sicht seines Erfinders. Machen Sie eine Zeitreise zu den Höhlenmalern, die sagen wahrscheinlich das Gleiche über ihre Arbeit wie die Softwareentwickler heute. Der eine will Jagderfolg, der andere Erfolg in der Finanzwelt. Das ist sehr ähnlich. Wenn das Finanzsystem zusammenfällt, haben wir auch nichts mehr zu essen.
SZ: Wenn nun der Softwareentwickler der wahre Erbe der Höhlenmaler ist, wenn die Kunst also überall geschieht, wozu sind dann noch Ausstellungen gut?
Christov-Bakargiev: Wissenschaftler und Künstler haben heute gemein, dass sie Rechercheure sind, sie machen Grundlagenforschung. Deswegen haben wir auch Quantenphysiker eingeladen. Das ist der Unterschied der Documenta zum Höhlenmaler und zum Softwaremacher: Die machen angewandte Kunst, keine Forschung.
SZ: Die Wissenschaft und Physik, die Sie ausstellen, existieren auch ohne Documenta. Wofür brauchen wir noch eine Documenta?
Christov-Bakargiev: Um diese Dinge anzuwenden. Die politische Lage heute ist kritisch: die Zunahme der Armut, der Verlust der Autonomie in der Nahrungsmittelherstellung. Nun, ich bin Optimistin. Ich sehe die Documenta als Laboratorium, wo Allianzen im Dialog entstehen.
SZ: Es geht Ihnen also in der Ausstellung um politische Ziele?
Christov-Bakargiev: Kunst war immer politisch, auch Caravaggio, auch die religiöse Kunst des Barock. Religion ist Politik, Visionen sind Politik.
SZ: Damals gab es kirchliche und politische Auftraggeber. Heute sind Sie die Auftraggeberin.
Christov-Bakargiev: Ja, in diesem Fall bin ich Auftraggeberin, es gibt über 100 neue Werke. Eine Documenta ist eine Membran zwischen Publikum und der Welt hinter der Ausstellung: Künstler, Intellektuelle, Techniker. Ich tendiere dazu, mich mehr mit der Welt hinter der Ausstellung zu beschäftigen als mit dem Publikum. Aber paradoxerweise hatte ich in meinen Ausstellungen trotzdem immer ein gigantisches Publikum. Ich habe diese Erfahrung gemacht: Wenn ich nicht so viel über die Besucher nachdenke, dann sind die Leute am glücklichsten. Sie haben dann das Gefühl, sie bekommen unverstellten Einblick in diese andere Welt hinter der Ausstellung.
SZ: Macht denn die Öffentlichkeit nicht den eigentlichen Unterschied aus zwischen Wissenschaft und Documenta? Beide Male geht es um Grundlagenforschung, aber in der Documenta geschieht dies öffentlich.
Christov-Bakargiev: Das Publikum der Wissenschaft sind wir alle, die Zahnpasta oder Medikamente kaufen. Und das Publikum der Kunst benutzt auch Kunst, will etwas verstehen, so wie man auch einen Roman liest oder einen philosophischen Text. Je mehr man über das Display nachdenkt, desto weniger erlaubt man den Besuchern, in Dialog zu treten mit der Forschung.
SZ: Was ist die gesellschaftliche Funktion der Documenta?
Christov-Bakargiev: Es geht darum, Zweifel zu säen, Sicherheiten in Frage zu stellen. Ich bin Skeptikerin. Ich weiß vieles nicht: Könnte der Hund eine Grammatik schreiben, wenn man ihm die Möglichkeit gäbe?
SZ: Haben Sie sich deshalb entschieden, die Aufbruchszeit der fünfziger Jahre in der Documenta zu betonen?
Christov-Bakargiev: Wir leben im Moment der großen Krise. Die ökologischen, politischen, ökonomischen, kulturellen Systeme werden sich im 21. Jahrhundert verändern. Mich interessieren die zwanziger bis fünfziger Jahre. Auch wir haben Kriege: Afghanistan ist nach Bürgerkriegen und einem totalitären Regime von fremden Mächten besetzt und steht gerade wieder auf. Auch Kassel war nach einem totalitären Regime erst zerstört und war dann, kurz bevor die Documenta hier begann, von Fremdmächten besetzt. Es ging darum, nach einer Diktatur eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Wie rekonstruiert sich Identität, ohne in die alten Muster zurückzufallen, die das Desaster ausgelöst haben? Diese Probleme tauchen vielerorts auf der Welt auf.
SZ: Warum greifen Sie dabei auf Salvador Dalí zurück? Der galt bislang eher als Mainstreamkünstler.
Christov-Bakargiev: Dalí ist nicht nur Mainstream, er ist auch gegen die Tradition der Documenta, die nie etwas mit Surrealismus zu tun haben wollte. Wenn die Welt so schreckenerregend wird wie jetzt, müssen Sie die Kunst der dreißiger Jahre anschauen. Der Surrealismus ist oft die einzige Freiheit, die bleibt, wenn es keine anderen Freiheiten mehr gibt.
SZ: In der Krise bleibt nur die innere Freiheit?
Christov-Bakargiev: Ja, aber eine, die in die reale Welt geht. Eine Form von Unbehagen und Hysterie, in solchen Momenten wird die Kunst extrem. Wenn man die Documenta zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Es handelt sich um eine große Feier der Kräfte der Imagination, zu reagieren auf kritische Situationen.