Documenta in Kassel:Wie die Documenta das Publikum bevormundet
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In Kassel pflegen Künstler wie Kuratoren einen politischen Anklagemodus, der vereinfacht statt aufzuklären. Die Schau ist viel zu parteiisch.
Von Kia Vahland
Der Ich-Erzähler aus Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" sinniert über den Pergamonaltar und seine eigene Situation als Kommunist im Berlin des Jahres 1937: "Immer hatten sich die Oberen die Rechte geholt, und immer hatten sie auf ihrer Hegemonie bestanden, bis andere Mächtige zur Ablösung kamen, und wir hatten es nie weitergebracht, als nachzugeben und uns zu fügen". Daraus entfaltet sich eine klassenkämpferische Sicht auf Werke der klassischen Kunst, auf Gericault, Goya und Bruegel. Hoffnungsträger der jungen Kommunisten ist der mythische Herakles, dem sie zutrauen, doch noch die Verhältnisse umzustürzen.
Die Kunst wird zum Instrument später Gerechtigkeit: Dieser Gedanke ist in diesem Sommer wieder en vogue, denn die Documenta verschreibt sich der politischen Aktion. Doch in Kassel ist wenig zu spüren von dem Selbstzweifel, den bei Peter Weiss der Erzähler formuliert, der hadert mit sich und dem, was das wäre, eine sich in qualvollen Suchbewegungen erst formierende "Ästhetik des Widerstands".
Die Documenta-Macher dagegen sind sich ihrer Sache sicher. "Wir hoffen, dass die Documenta 14 einer von vielen Schritten sein wird auf dem Weg in eine Welt, in die wir leben wollen", schreibt der Kurator Adam Szymczyk über die in Athen und Kassel stattfindende Schau. Diese Kunsterfahrung solle "der Versuch einer ganz neuen Existenzweise" werden. Man würde sich gerne mitreißen lassen von den warmen Visionen der Weltverbesserung. Würde die Documenta denn in das große Hinterfragen, in den hochfahrenden Gestus der Gesellschaftskritik sich selbst einbeziehen.
Das aber tut sie nicht, und wenn doch, dann ist immer die Institution Documenta gemeint, also die Gesamtheit der 13 Vorgängerausstellungen, von deren (angeblich) systemstabilisierender Wirkung sich die jetzige Ausgabe abgrenzen will. Das traditionelle Ausstellen von Kunst gilt ihr als problematische Kulturtechnik, "die Bürger_innen so erziehen soll, dass sie sich freiwillig selbst beherrschen" (Tony Bennett im Katalog). Die aktuelle Schau will das anders machen, sie will das Publikum in sogenannten Chorus-Führungen ermächtigen. Dort erklärt der oder die Führende praktisch nichts, sondern fragt die Besucher nach ihren Empfindungen bei diesem oder jenem Werk. Viele peinliche Schweigepausen sind dabei zu beobachten, schließlich ist es ohne Hintergrundinformationen schwierig, sich ad hoc eine fundierte Meinung zu bilden.
Für Gegenargumente interessiert sich die Ausstellung wenig - nicht einmal, um sie zu widerlegen
Man kann auch durch Nichtinformation manipulieren. Wer alle Autoritäten abschafft, inszeniert sich selbst als letzte Instanz. So funktionierte die antiautoritäre Erziehung der Siebzigerjahre. Vom Hausmeister über die Lehrerin bis zum Pfarrer und der Polizistin standen Funktionsträger im Verdacht, Kinder zu dressieren. Übrig blieben als einzige Orientierungsgrößen nur die antiautoritären Erzieher, deren Weltbild nun konkurrenzlos dastand.
Die Documenta in Kassel, dort noch bis zum 17. September zu sehen, erreicht diesen Effekt mit gezielter Einseitigkeit in der Präsentation. Frühere Ausgaben verstanden unter politischer Kunst die Dokumentation des Weltzustandes, man erfuhr viel über Hafenarbeiter in Südafrika oder die Wohnungsnot von Hurrikanopfern. Sie zeigten, was in der Aufmerksamkeitsökonomie der Massenmedien öfter mal zu kurz kommt, subjektive Berichte vom Leben der anderen. Anteilnahme aber genügt den Kuratoren diesmal nicht, jetzt geht es um Parteinahme. Die samische Künstlerin Máret Ánne Sara protestiert in der alten Hauptpost von Kassel mit einem Vorhang ausgekochter Rentierschädel gegen die Weisung der norwegischen Regierung, ganze Herden zu schlachten. Womöglich ist den Samen großes Unrecht geschehen, als sie die für sie so wichtigen Rentiere verloren - nur würde man, um sich selbst ein Urteil zu bilden, gerne auch die Begründung der norwegischen Regierung kennen.
Die Documenta interessiert sich herzlich wenig für Gegenargumente, nicht einmal zu dem Zweck, sie zu widerlegen. Maria Eichhorn bespielt den zentralen Saal im Obergeschoss der Neuen Galerie mit einer Installation zur NS-Raubkunst. Auf Wandtafeln ist ein Interview von ihr mit David Toren abgedruckt, dem rechtmäßigen Erben eines Liebermann-Gemäldes aus dem Gurlitt-Konvolut. Toren beschuldigt in dem Gespräch ein Auktionshaus, mit Raubgut zu handeln und verdächtigt eine Kunsthistorikerfamilie, heute noch NS-Raubkunst zu besitzen. Beide werden namentlich genannt. Doch Eichhorn konfrontiert sie nicht mit den Vorwürfen. Auch wenn Toren recht haben sollte - ein Prozess, in dem Angeklagte nicht gehört werden, ist eine suspekte, autoritäre Veranstaltung.
Der Wutbürger-Gestus der selbstgerechten Empörung steigert sich ins Lächerliche, als auf der selben Etage Sergio Zevallos die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und die rechtsradikale Angeklagte Beate Zschäpe gleichermaßen als wächserne Schrumpfköpfe präsentiert, um ihre Energien in einer Art Voodoo-Ritual zu bannen. Hirnschrumpfung als politische Utopie.
Problematisch wird der Anklagemodus, weil ihn in Kassel nicht nur einzelne Künstler pflegen, sondern auch die Kuratoren. In der Neuen Galerie, dem programmatischen Zentrum der Schau, sind Bäume zu sehen. Edi Hila malte in Albanien Enver Hodschas baumpflanzende Pioniere, Sokol Beqiri zeigt im Video, wie er die von Joseph Beuys gepflanzten Kasseler Eichen mit Bäumen aus Athen vereint. Daneben ist eine Beuys-Installation aufgebaut, die immer hier steht. Diese leitet nahtlos über in Piotr Uklańskis saalhohe Fotoarbeit "Real Nazis", die "echten" Nazis. Propagandaporträts von Himmler, Goebbels, Mengele und anderen NS-Tätern und Neonazis füllen die Wand. Dazwischen findet sich ein Bildnis von Joseph Beuys, der im Krieg Funker war. Bei allem, was man an Beuys' romantisierendem Deutschtum kritisieren mag: Einen so plumpen Angriff hat der Erfinder der sozialen Plastik nicht verdient.
Das Denken in "richtigen" Inhalten und Motiven statt in stimmigen Formen ist das große Risiko agitatorischer Kunst. Daran störten sich schon Peter Weiss' kommunistisch gesonnene Romanfiguren. Der sozialistische Realismus verdecke "die widerspruchsvollen Prozesse, in denen Neues entsteht", heißt es in der "Ästhetik des Widerstands". Es reiche nicht, wenn die Künstler gute Absichten hegten, ihre Bildideen müssten sich auch formal beweisen, müssten das visuelle Denken herausfordern und nicht einengen.
Als Geflohener weiß der irakische Künstler Hiwa K, wovon er spricht. Und findet starke Bilder
Die Neue Galerie in Kassel dagegen ist nach rein ikonografischen Gesichtspunkten kuratiert. Barlach und Courbet sind zu sehen, weil sie Bettler darstellen, also die Opfer einer strikten Warenökonomie. Im oberen Geschoss zeigt Gerhard Richter ein Bildnis des Documenta-Gründers Arnold Bode, dieser porträtiert den Maler Karl Leyhausen, jener Peggy Sinclair, eine Freundin Samuel Becketts, was zu der Information führt, dass der Schriftsteller auch einmal in Kassel war. Ebenso Leo von Klenze, der im 19. Jahrhundert neben dem Ballhaus in Kassel auch Athen teilweise neugestaltet hat. Das wiederum führt zur Akropolis, dem eigentlichen Zentrum der ganzen Documenta. Und die wurde von Nazimalern ebenso dargestellt wie von einem Vorfahren des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt. So klein ist die Welt, alles hängt mit allem zusammen.
In diesen rein motivischen Assoziationsketten finden sich auch interessante Stücke wie eine Zeichnung von Ludwig Emil Grimm, der 1853 das Prinzip der Völkerschau umdreht und mehrere Schwarze eine weiße Debütantin im Käfig betrachten lässt. Das Blatt aber darf nicht für sich stehen, sondern muss gleich allen Entrechteten der Welt eine Stimme geben. So dass wir schnell bei der Hungersnot in Indien in den Vierzigerjahren wären - die hier pietätlos mit historischen Reliefs des freiwillig fastenden Buddhas kurzgeschlossen wird. In solchen Reihungen wird eine Zwangsläufigkeit behauptet, die keiner historischen Detailstudie standhielte. Der Vorwurf, diese Documenta sei ein kulturwissenschaftliches Seminar, beleidigt vor allem das Seminar.
Die Schau zielt nicht auf ein Abwägen der Argumente, sondern entwirft ein romantisches Bild des antineoliberalen, antikolonialen Widerstands. Die indigenen Künstler (zynisch im Naturkundemuseum ausgestellt) dienen als Ideal eines besseren, natürlichen Lebens. Auch die angeblich archaischen bäuerlichen Lebenswelten sind wieder da (kurioserweise mit Heuhaufenmotiven, die auch in den Dreißigerjahren als "volkstümlich" verehrt wurden).
Führt das zur politischen Aktion? Wohl kaum, aber es verschafft Machern wie Besuchern das wohlige Gefühl eines vermeintlichen Aufbegehrens.
Nun gibt es auch politische Kunst zu sehen, die tatsächlich aufzurütteln vermag. Dies sind vor allem die Arbeiten zur Flüchtlingskrise, etwa von dem Iraker Hiwa K, der als Geflohener weiß, wovon er spricht. Er führt den Kasselern das Modell ihrer 1945 zerstörten Stadt vor Augen und erzählt dazu von heutiger Flucht. Romantisch ist das Elend hier nicht, wohl aber universal erfahrbar. Die Ästhetik des Widerstand braucht keine Rechthaberei, sondern einen genauen Blick für das, was ist.