Documenta 12:Hier spricht der Markt

Bildende Kunst braucht keine geschützte Werkstatt für Gutmenschen: eine Kritik der Documenta 12.

Beat Wyss

Auch die Documenta 12 ist unsere Zeit, in Bilder gefasst. Schon schlummern die Verrisse in den Archiven, von wo sie als lustige Bocksgesänge einst wieder auferstehen, um historischem Rückblick die Würze treffsicherer Zeitgenossenschaft zu geben. So gelassen kann es ein Rezensent sehen, wenn sich die Aufregung gelegt hat. Jede Documenta-Eröffnung war zunächst umbrandet von einem Aufschrei der Enttäuschung eigener Vorstellungen, was aktuelle Kunst sei.

Tänzerin bei einer Installation der Documenta 12 in Kassel 2007

Tänzerin bei einer Installation auf der Documenta 12.

(Foto: Foto: dpa)

Der Anspruch, Gegenwart als Überblick, gleichsam in Vergangenheitsform, vorzutragen, bleibt ein paradoxer Kraftakt. Gegenwart ist immer die je meinige, die subjektive Perspektive schlechthin, da, wo ich im blinden Fleck des Erkennens stehe und nur das wahrnehmen kann, was - jetzt! - mir gerade vorkommt. Unmöglich, in diesem Moment die Sicht des Anderen einzunehmen, sie gar verstehen zu können. Die Zeit muss eine Strecke hingestürzt sein, bevor sich die Blicke verschränken, und wir erkennen, dass der Andere irgendwie auch recht hat.

Mir ging es ebenfalls so, als mir auffiel: Diese Documenta spricht ja wieder deutsch! Und es ist nicht provinziell, die Kunstprovinz Deutschland endlich wieder ins rechte Licht zu rücken. Der chronische Minderwertigkeitskomplex der Deutschen besteht in der Meinung, international seien nur die anderen. Noch immer scheint es nicht angekommen: Wir sind wieder wer, und zwar seit 52 Jahren, seit der ersten Documenta in Kassel.

Wie kein anderes europäisches Land hat die Bundesrepublik nach dem Krieg wieder gutgemacht, was das Deutsche Reich auszumerzen trachtete. Weder Italien noch Frankreich noch Österreich haben so gründlich den Boden für aktuelle Kunst wiederhergestellt.

Ein Hort der Wiedergutmachung ist Kassel; einst nationalsozialistisch bis ins Mark als hessische Verwaltungsstadt und Industriestandort für den Vernichtungskrieg, hat sie sich zur Botschafterin eines neuen, weltoffenen Deutschland gewandelt. Alle fünf Jahre trägt sie Kunst, und sie steht ihr gut über den Narben, die ihr ein Feuersturm nach einem Bombenangriff der Royal Air Force im Oktober 1943 geschlagen hat.

Die Documenta entstand aus dem Bedürfnis, sich als entnazifiziert auszuweisen. Da hielten sich die Nachbarländer schon bedeckter. Die Italiener dachten und denken noch immer, der Duce hätte es schon gerichtet, hätte er sich nur nicht mit Hitler eingelassen. Die Franzosen hielten sich für besetzt, so gut wie die Österreicher und so viele andere Europäer, die sich erst hinterher und insgesamt im Widerstand wiederfanden.

Die Deutschen aber nahmen mit der ganzen Schuld am Zweiten Weltkrieg auch das volle Programm der Umerziehung im Sinne der Siegermächte auf sich. Der Westen wurde zur Rosinenbrücke der USA, der Osten zum Bollwerk der UdSSR. Während die Umerziehung im Westen unterm Strich nahrhafter ausfiel, hat der Osten diese jetzt nachholen müssen im Rahmen eines Liberalismus, der inzwischen nicht mehr so freigiebig ist wie zu George Marshalls Zeiten. Erst mit dem Endsieg des Kapitalismus wird dessen Kleingedrucktes so klar lesbar.

Deutschland ist politisch und kulturell das Musterland des vereinten Europa. In der Pflege bildender Kunst sind die Deutschen Klassenbeste. Vanity Fair hat zur Eröffnung dieses europäischen Kunstsommers zwischen Venedig, Basel, Münster, Kassel und Fellbach gleich zwei Nummern dem hiesigen Kunstbetrieb gewidmet. "Deutschland setzt die Trends", titelt Chris Dercon, der Direktor des Münchner Hauses der Kunst.

Kein anderer Staat im Westen weist eine derart hohe Dichte an kulturellen Institutionen auf. Man zählt 1288 Galerien, sowie 6500 Museen, die jährlich 101 Millionen Besucher anziehen. Deutschland ist ein Dorado der Szene. Doch was hier als neue Nachricht verbreitet wird, ist so alt wie die Documenta. Der deutsche Kunstbetrieb erntet heute nur die Früchte eines umsichtigen, geradezu missionarisch geführten Einsatzes für die aktuelle Kunst.

Hier spricht der Markt

Die Werke mochten aus den USA kommen, die Theorie aus dem poststrukturalistischen Frankreich; im Maschinenraum des Kunstbetriebs sprach und spricht man deutsch. Der abstrakte Expressionismus aus New York fand seine weltweite Verbreitung über die Museumsachse Deutschland, Pop Art fand ihre deutschen Galeristen in Rudolf Zwirner in Köln, Alfred Schmela in Düsseldorf, Rolf Ricke in Kassel. Selbst Matthew Barneys monumentales Filmprojekt des Cremaster-Zyklus hätte das New Yorker Museum of Modern Art nicht realisiert ohne die finanzielle Beteiligung des Kölner Museums Ludwig.

Nun mag der Einwand kommen: Von wegen deutsch - nur 13 Landsleute von 113 ausgestellten Künstlern hat der Leiter der Documenta 12, Roger Buergel, für würdig befunden. Nun, es geht nicht um den deutschen Pass, es geht um die Methode, und die ist deutsch: Man spricht, mit Erwin Panofsky, "die Muttersprache der Kunstgeschichte". Damit ist die Hamburger Schule angesprochen. Die Kuratoren haben die Ausstellungshallen von Kassel zu einem Trimmpfad der Warburgschen Ikonologie gemacht.

Buergel inszeniert wandelnde Pathosformeln, die dem menschlichen Bedürfnis nach Ausdruck entgegenkommen: auf Tongefäßen, über Videofilme, in Perserteppichen. Doch nicht erst bei Buergel, schon bei Aby Warburg fehlt das bösartige, das subversive dieser visuellen Wandermotive. Warburg hat Freud nicht gemocht. Doch von Freud könnte man lernen, dass Bilder nicht nur etwas zeigen, sondern in erster Linie etwas verdecken, von etwas ablenken wollen, was besser unsichtbar bleibt.

Die Kunst hat Laufen gelernt

Die Schlüsselthese zur Traumdeutung ist die Einsicht, dass sich Träume niemals mit Kleinigkeiten abgeben. Der Traum als Hüter des Schlafs überspielt das Ungeheure in mir, damit es mich nicht aufwecke. In diesem Sinne haben Buergel und seine Gefährtin Ruth Noack ganze Traumarbeit geleistet: Wir, die Besucher, wachen nicht auf, wir schlafen den Schlaf der Volksaufklärung.

Ist der Gegenwartskunst mit der These von den wandernden Bildern endlich wieder eine umfassende Theorie gestiftet? Leider nicht. Das vergleichende Botanisieren nach Art der ikonologischen Methode ist eine Bildtheorie, keine Kunsttheorie. Kunsttheorien sind Nebenprodukte der Praxis, sie beschreiben die Verfahren der Künstler; Impressionismus, Kubismus, Informel und Pop waren die letzten großen Theorien der Praxis gewesen. Bildtheorie hingegen ist ein Instrument des Formensammlers, der immer schon am Ende der Produktion steht, um die Ernte wohlgeordnet in die Scheuer der Geschichte zu fahren. Es ist diese posthistorische Haltung, die der Künstler bei Kunsthistorikern nicht mag, diese Illusion, man säße unangefochten hoch oben.

Der Diskurs der Postmoderne in den frühen neunziger Jahren war die letzte Theorie gewesen, die bildende Kunst wirklich als Bildphänomen behandelte. Es folgte ein gutes Jahrzehnt lang das theoretische Protektorat, zusammengesetzt aus Soziologie und Literaturwissenschaft, methodisch unterfüttert im Geist von Poststrukturalismus und Postkolonialismus. Deren Thesen ließen sich immer nur allegorisch auf die sichtbare Ebene des Kunstwerks übertragen.

Buergel hat damit Schluss gemacht. Die Documenta 12 besiegelt das Ende praktizierender Kunsttheorie. Die Rückkehr zur vergleichenden Bildbotanik, wie es die deutsche Kunstgeschichte von Riegl, über Wölfflin zu Warburg hervorgebracht hat, ist ein Abschied von Theoriehybriden aus Lacan, Foucault und Derrida, die zu zitieren kein Katalogtext müde geworden war. Jetzt weht uns Hegels Weltgeist wieder ganz unverstellt an, ohne dekonstruktive Verfremdungen, in seiner ganz schwäbischen Skurrilität und Behäbigkeit.

Kann es sein, dass die Kunst die Theorie nicht mehr braucht? Alle Anzeichen sprechen dafür. Der Betrieb strotzt wie nie, obwohl - oder besser: gerade weil er nicht mehr auf theoretische Begründung angewiesen ist. Die Kunst hat Laufen gelernt wie Zarathustra, jetzt will sie nicht mehr gestoßen werden - von der schreibenden Zunft am wenigsten.

Hier spricht der Markt

Das alleinige Regulativ der Formschöpfung ist der Markt, der dem Werk die Stichworte und die Maßstäbe setzt. Es geht weder um Stilfragen noch um politische Theorie. Es ist jetzt wie bei Media Markt: Hier spricht der Preis. Und die Partys. Und wer eingeladen war: exakt jene Nachrichten also, die in Kunstzeitschriften fehlen, wo bei einem Abonnentenstamm von 6000 treuen, fachlich geschulten Lesern ums Überleben gekämpft wird. Die Kunstzeitschrift neuen Typs ist Vanity Fair, Gala, die Bunte. Hier kann man lesen, welcher Hollywoodstar welchen Künstler zu welchem Preis gekauft hat, und was der Star zur Kunst und Markt zu sagen hat.

Gewiss gibt es noch Sammler alter Schule, die ihre Strategien gestalten wie der Banker, der seinem Verwaltungsrat und den Aktionären Rechenschaft schuldet. Doch dem Sammler von heute geht es nicht mehr um Spekulation, jener alten, bürgerlichen Art, auf lange Sicht Werte anzuhäufen und zu vermehren. Der Sammler neuen Typs ist der Souverän seiner Kunst. Auch ein Lamborghini wird einmal zu Schrott gefahren. Der Kunstmarkt ist Spektakel der Geldvernichtung, das Sammeln etwas für Leute, die so viel Geld haben, dass sie es loswerden wollen.

Denn Geld bekommt erst Sexappeal, wenn es in sinnlich verwandelter Form sich vorführt: als Luxus. Verschwendung und Großzügigkeit sind Ausdruck souveräner Macht, der sich in allen Kulturen findet. Kein Wunder, dass Kunst heute weltweit sofort verstanden wird. Aus dem Indianischen kommt das Wort Potlatsch: Es bezeichnet die mutwillige Vernichtung von Werten durch Opfer und öffentlich dargebrachte Geschenke. Der Häuptling erweist sich darin erhaben über den Kreislauf von Nehmen und Geben, wie ihn die blanke Notdurft des Lebens diktiert.

Die Kasseler Zahlen verblassen vor der Art Basel

Was ist der Grund für den märchenhaften Aufstieg bildender Kunst zur symbolischen Tauschwährung der globalisierten Welt? Als einzige Sparte der Kultur verläuft ihre Produktion, Zirkulation und Konsumtion parallel zu jener der Waren. Rocksänger und Filmstars fädeln sich zwar auch in diesen Kreislauf ein und verdienen gut dabei, haben aber ein Handicap in Sachen allgemeiner Verständlichkeit; ihre Produkte sind regional gefärbt von Moralvorstellungen, Erzählmustern, musikalischen Gewohnheiten. Doch das Kunstwerk als sichtbare Gabe, dargereicht im symbolischen Tausch des Potlatsch, hat die unmittelbare Evidenz einer archaischen Opferhandlung. Der Künstler ist Medienstar und Produzent von Warenfetischen.

Sein Auftritt verbindet mediale Allgegenwart in Fernsehen, Internet und Regenbogenpresse mit der uralten, singulären Realpräsenz auratischer Werke. So vollführt die Starkunst heute eine betörende Zangenbewegung von Hybridität und Ursprünglichkeit. Wen wundert es da, dass vor allem die Literaten mit aktueller Kunst nichts mehr am Hut haben. Der Neid ist ihnen nicht zu verdenken, denn selbst wenn sie mit Event-Lesungen den Starkünstler kopieren, bringen sie es unterm Strich als intellektuelle Hungerleider auf keinen grünen Zweig.

Noch immer spricht man von der Documenta als der größten Kunstschau - ein frommer Wunsch der altgläubigen Kunstwelt. Mit ihren fünf Ausstellungshallen und 113 Künstlern verblassen ihre Zahlen vor der Art Basel, wo heuer 300 Galerien 2000 Künstler gezeigt haben. Und zwar nur erste Sahne. Buergel, sagt man, habe sich dem Kunstmarkt nicht beugen wollen. War er da Akteur oder nicht eher Opfer eines Bedeutungsverlustes? Die Kunstmesse ist inzwischen zum Kanon-Index aufgestiegen. Öffentliche Ausstellungen dagegen machen sich allenfalls noch nützlich als staatlich subventionierte Talentschuppen.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Kassel zur Förderkoje der Kunstmessen geworden ist. Welcher Künstler will es nicht vom diskursiven Schmuddellook in die Charts bringen? Vor fünf Jahren bastelte Thomas Hirschhorn noch ein Denkmal für Georges Bataille im Hof eines Kasseler Problemquartiers. Heuer war er unter den Stars der Basler Kunstmesse und wird in dieser Liga wohl weiterspielen. Wie sich in der Szene herumspricht, haben sich schon etliche Künstlerinnen und Künstler der Documenta von der Marktferne ihres Kurators abgesetzt und sind ins Geschäft gekommen. Das ist auch gut so.

Buergels marktkritisches Auftreten kann man als Zivilcourage, aber auch als Naivität auffassen. Kunst ist ein Produkt der Gewerbefreiheit, um welche die Künstler in der Französischen Revolution gekämpft hatten. So geistig sie auch immer sich geben will, ihre Freiheit verdankt sie dem freien Markt. Bei einer Spaltung des Kunstbetriebs in eine Starkunst und in eine geschützte Werkstätte für Gutmenschen verlören diese vor allem. Der Kunstbetrieb braucht kein Hollywoodsystem wie der Film, wo Starkult und Experimentalbereich in Apartheid leben. Der Kunstmarkt steht in der Pflicht, sich auch an den Entwicklungskosten des Neuen zu beteiligen.

Reihten sich die ersten vier Documenta-Schauen noch linear aneinander im Sinne des modernen Fortschrittsgedankens, so verlaufen die Konzepte der Ausstellungen seit 1972 nach dem Gesetz der Mode: Neu ist das Gegenteil dessen, was jetzt gilt. Stimmt diese Annahme, so müsste als Documenta-13-Kurator auf Roger Buergel 2012 Samuel Keller folgen, der soeben abgelöste Direktor der Art Basel.

Der Autor ist Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Im Februar erschien von ihm der Essayband "Die Wiederkehr des Neuen" im Fundus-Verlag.

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