Frank-Walter Steinmeier auf der Documenta:Hohe Werte

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"Ich will offen sein. Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde": Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Samstag in Kassel bei der Eröffnung der Documenta. (Foto: Swen Pförtner/dpa)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet die Documenta mit einer heftigen Schelte für die Verantwortlichen.

Von Jörg Häntzschel

Wie wichtig Deutschland seine Documenta ist, zeigt sich auch daran, dass sie traditionell vom Bundespräsidenten eröffnet wird. Er lässt sich dann von den Kuratoren dieses oder jenes Kunstwerk erklären, preist die Schau wegen ihrer Bedeutung für Deutschlands Ansehen in der Welt, klopft Künstlern auf die Schulter - und fährt wieder. Normalerweise. Frank-Walter Steinmeier hat bei der Eröffnung der fünfzehnten Documenta am Samstag mit dieser Tradition gebrochen und damit eine neue Phase der Debatte um mutmaßliche antisemitische Tendenzen der Großausstellung und ihrer Macher eingeleitet.

So alarmiert war Steinmeier von den Berichten der vergangenen Wochen und Monate, dass er für sich selbst nur zwei Szenarien sah: Eines bestand darin, die Documenta zu boykottieren: "Ich will offen sein. Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde." Er entschied sich dann aber für einen anderen, ebenso drastischen Schritt: Statt als wohlwollender Festredner trat er als scharfer Kritiker der Documenta, ihrer Kuratoren und Verantwortlichen und indirekt auch der politisch Zuständigen auf - von Kulturstaatsministerin Claudia Roth über die hessische Landesregierung bis hin zum Kasseler Bürgermeister Christian Geselle. Er rügte sie - ohne konkret zu werden - für ihren "leichtfertigen" Umgang mit Israel und warf ihnen vor, das mit der Konzeption der Schau beauftragte indonesische Kollektiv Ruangrupa bei der Arbeit nicht ausreichend beaufsichtigt zu haben. Verantwortung, sagte er, "lässt sich nicht outsourcen".

Steinmeier ist gerade aus Indonesien zurückgekehrt, dem Herkunftsland des Ruangrupa-Kollektivs

Als Steinmeier und seine Mitarbeiter die Rede schrieben, hatte er die Documenta noch nicht gesehen. Was er aber gesehen hatte, war Indonesien. Der Präsident war erst in der Nacht vor dem Auftritt in Kassel von einem Staatsbesuch dort zurückgekehrt. Viele erwarteten deshalb, dass Steinmeier sich für die Ideen von Ruangrupa besonders aufgeschlossen zeigen würde. Und so erschien es anfangs auch.

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"Ich habe in Indonesien gesehen, wie (...) Menschen auf scheinbar endlosen Müllhalden leben. Ich habe gesehen, wie Plastikmüll - westlicher Plastikmüll - in einem Kunstprojekt (...) zu Ziegelsteinen verarbeitet wird. Aus diesen Steinen soll für die Anwohnerinnen und Anwohner der Mülldeponie ein Haus gebaut werden - als Ort für die Kunst, aber auch als Ort für eine Stiftung, von der die Menschen finanziell profitieren." Das Projekt ist nicht Teil der Documenta, doch es verkörpert beispielhaft das Kunstverständnis von Ruangrupa.

Steinmeier begrüßte ausdrücklich, dass erstmals Kuratoren aus dem globalen Süden die Documenta verantworten. Und er machte unmissverständlich klar, wie sehr ihm die Ungerechtigkeit bewusst ist, die dieser Teil der Welt vom Westen widerfährt, und für wie notwendig er die Aufarbeitung von altem und neuem Kolonialismus hält. Der Kunst, so Steinmeier, komme dabei eine wichtige Rolle zu. Ihre Freiheit sei ein hoher Wert: "Eine demokratische Gesellschaft darf Künstler nicht bevormunden, erst recht nicht instrumentalisieren. Kunst hat keinen politischen Auftrag. Politik richtet nicht über die Qualität von Kunst."

"Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!"

Die Freiheit der Kunst umfasse auch die Freiheit, Israel zu kritisieren, bog Steinmeier nun auf das Thema ein, das im Zentrum seiner Rede stand. "Manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau", sei "berechtigt". Doch diese Freiheit der Kritik habe Grenzen, und "um das klarzustellen, spreche ich heute hier": "Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten", sagte er. "Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!"

Steinmeier sagte nicht, welche Documenta-Kunstwerke er für anstößig halte. Er ging auch nicht explizit darauf ein, dass einige Ruangrupa-Mitglieder der israelkritischen Kampagne BDS nahestehen. Es falle aber auf, dass "auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind".

Dass die im Vorfeld der Documenta geplante Diskussionsreihe "We Need to Talk" nicht zustande kam, beklagte Steinmeier. Offene Debatten seien wichtiger denn je, meinte er, stellte aber gleichzeitig auch eine Bedingung dafür auf: "Niemand, der in Deutschland als Debattenteilnehmer ernst genommen werden will, kann zu Israel sprechen, aber zu sechs Millionen ermordeten Juden schweigen."

Bevor er mit einem Bekenntnis zur Bedeutung der Kunst und der Documenta schloss, erteilte er den Verantwortlichen noch einen Auftrag: Er würde es "sehr begrüßen", sagte er, wenn sie sich "intensiv" der "anspruchsvollen Vermittleraufgabe" annehmen würden - gemeint war die Vermittlung zwischen politischen und kulturellen Standpunkten des globalen Südens und der besonderen Sensibilität, die in Deutschland im Umgang mit dem Land Israel geboten sei.

Bei einer Demonstration, die kurz nach Steinmeiers Rede vor dem "Ruruhaus", dem Besucherzentrum der Documenta, stattfand, lobten einige pro-israelische Demonstranten unter wehenden israelischen Fahnen Steinmeier für seine Worte und zitierten sie vielfach. Andere äußerten sich empört darüber, dass er gekommen war und dass die Schau stattfinden durfte. Sie beklagten den "Antisemitismus von links", der ihrer Meinung nach in der deutschen Kulturszene grassiere. Einige Sprecher riefen zum Boykott der Documenta auf.

Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, meldete sich am Wochenende zu Wort. Es sei den Verantwortlichen der Documenta "nicht gelungen, die Antisemitismus-Vorwürfe in glaubwürdiger Weise auszuräumen", sagte er der Bild am Sonntag. Klein sagte, er teile die kritische Einschätzung des Bundespräsidenten: "Es kann nicht sein, dass Antisemitismus Teil des von der öffentlichen Hand geförderten künstlerischen Diskurses in Deutschland ist." Auch Klein führte nicht aus, welche Kunstwerke ihm antisemitisch erscheinen.

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Offen ist nun, wie die Documenta-Macher mit den Anschuldigungen Steinmeiers umgehen und welche Folgen sie für die diesjährige Ausgabe, aber auch für die Zukunft der wohl wichtigsten Kunstausstellung der Welt haben könnten. Am Wochenende war noch unklar, wie die Mitglieder von Ruangrupa reagieren werden, und ob sich Sponsoren zurückziehen oder internationale Besucher fernbleiben werden.

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