Russische Literatur:Stadt im Display

Digitale Technik im analogen Plot: Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky lässt seinen Moskau-Roman "Text" aus dem Smartphone eines Toten hervorgehen.

Von Tillmann Severin

"Moskau lesen" hat Tradition. 1984 erschien Karl Schlögels gleichnamiger Klassiker, in dem er die Stadt zu Fuß vermisst und ihre architektonischen Schichten nach Kontinuitäten, Ideologie und Macht befragt. Dabei fällt ihm unter anderem auf, wie sehr Stalins Hochhäuser Kirchen ähneln. Zwischen diesen Hochhäusern befand sich bis 1931 die Christ-Erlöser-Kathedrale, die unter der Sowjetherrschaft gesprengt und durch einen monumentalen Palast der Sowjets ersetzt werden sollte, der aber nie fertiggestellt wurde. Stattdessen wurde an der Stelle ein Schwimmbad errichtet.

Ein weiterer Moskau-Leser war Michail Ryklin, der in seinem Essayband "Räume des Jubels" (2003) weitverzweigten Netz der Metro und der Mythen, die sich um sie ranken, die stalinistische Ideologie entzifferte. Die Christ-Erlöser-Kathedrale wurde mittlerweile in exakter Kopie wieder aufgebaut und im Jahr 2000 eingeweiht. Ein Treppenwitz der Geschichte, wird doch der Putin-Ära einerseits die Nähe zur Kirche und andererseits die zum Stalinismus nachgesagt.

Was lässt sich heute aus der Architektur der russischen Hauptstadt herauslesen? Die Wolkenkratzer der Moskau-City - Glas und Stahl - sind denen anderer Metropolen so ähnlich, dass man hier eher von globaler als russischer Architektur sprechen müsste. So ist es nicht verwunderlich, dass der 1979 geborene Moskau-Leser Dmitry Glukhovsky seinen ersten Roman "Metro 2033" zwar in der unterirdischen Infrastruktur spielen ließ, diese aber in eine dystopische Zukunft verlegte. Niemand wollte 2002 den Roman verlegen, Glukhovsky publizierte sein Debüt kostenlos im Internet. Mit Erfolg. "Metro 2033" fand 2005 doch einen Verlag und wurde ein Bestseller.

Glukhovsky war einer der ersten, die diese neue Publikationsform wählten, und wer sich erinnert, dem fällt möglicherweise ein, dass es damals noch keine Smartphones gab. Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Gut zehn Jahre später macht Glukhovsky sich in seinem neuen Roman "Text", der von Franziska Zwerg ins Deutsche übersetzt wurde, noch einmal auf, Moskau zu lesen. Er findet eine veränderte Stadt vor. Sie ist noch immer von Stalins Architektur geprägt, die Metro ist die gleiche, aber die Fahrgäste starren nicht müde geradeaus, sondern auf das Display ihres Smartphones. Glukhovksy zeigt die Sozial- und Machtstruktur der Stadt nicht an ihrer Architektur, sondern entschlüsselt sie mit dem iPhone des Drogenfahnders "Schwein". So nennt ihn Ilja, die Hauptfigur des Romans.

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In der Moskauer Metro gibt es viel zu sehen, ihre Bahnhöfe gehörten zu den spektakulären Bauwerken in der Ära des Stalinismus. Aber noch mehr zu sehen gibt es in Dmitry Glukhovskys Roman <NM1>auf<NM>in iPad und iPhone.

(Foto: AFP)

Um diesen Moskau-Text zu lesen, braucht es keine Kenntnisse in Architektur und Baugeschichte, sondern den sechsstelligen Code eines iPhones. Und, damit Ilja an diesen Code kommt, "das Wurstmesser aus Mutters Küche - es war schmal, gewetzt an einem einsamen Abend." Ilja ersticht den Drogenfahnder im Affekt, nimmt dem Sterbenden sein Handy ab und liest die Emails, SMS, What's-App-Nachrichten und das Adressbuch. Zwanzig Nachrichten mit Uhrzeit und Adressat können mehr über ein Leben sagen als eine tränenverschmierte Tagebuchseite. So wird aus der Lektüre eines Moskauer Smartphones ein Roman.

Sieben Jahre vor Einsetzen der Handlung treffen Ilja und der Drogenfahnder zum ersten Mal aufeinander. Ilja feiert eine bestandene Prüfung im Moskauer Club "Paradies". Doch es gibt eine Razzia, Ilja gerät mit dem Drogenfahnder in Streit. Der jubelt ihm Kokain unter und lässt ihn festnehmen. Ilja wird zu sieben Jahren Strafkolonie verurteilt. Es ist Rache, was den Roman antreibt. Es wird keine einfache Rache wie im Western, die im entscheidenden und befriedigenden Duell endet, sondern Rache à la russe. Sie hat viel mit Zweifel, Schuld, Wodka, Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens zu tun.

Die russische Literaturgeschichte blitzt an jeder Ecke durch und es überrascht nicht, dass Ilja, Vorstadtjunge und Sohn einer Russisch-Lehrerin, gerade ein Literaturstudium begonnen hat, als er in die Strafkolonie kommt. Glukhovsky, der sieben Sprachen spricht, in Moskau und Jerusalem studiert hat und zwischen Moskau und Barcelona pendelt, hat alle diese Anspielungen genau abgewogen.

Als Ilja aus der Strafkolonie zurückkehrt, liegt noch die Zeichnung von Kafkas Ungeziefer auf seinem Schreibtisch, die er als Student angefangen hat. Die Literaturgeschichte hat sich nicht verändert. Verändert hat sich der Text, den die Stadt produziert. In den sieben Jahren Strafkolonie hat Ilja nicht nur seine Jugend, sondern auch den Siegeszug des Smartphones verpasst und ist verblüfft, was er mit dem iPhone des Drogenfahnders in der Hand hält: "Da passte ein ganzes Leben rein, und es blieb noch Platz für Musik." Das Handy erweist sich nach dem Tod seines Besitzers als quicklebendig. Ilja erhält Nachrichten von Schweins Bekannten und Verwandten, die nicht wissen können, dass der Adressat tot ist. Er beginnt zu antworten und verstrickt sich so in das Leben, das der getötete Drogenfahnder zurückgelassen hat.

Ilja fürchtet, als ehemaliger Sträfling erkannt zu werden und findet heraus, dass er unsichtbar wird, sobald er auf der Straße nicht geradeaus, sondern in das Smartphone blickt. Ilja setzt die Mosaiksteine aus Nachrichten und Mails von und an Petja, wie Schwein mit bürgerlichem Namen heißt, zu einer Familienkonstellation zusammen. Er erkennt an der Anrede, wie wichtig jemand für Petja war und erkundet anhand von Nacktfotos und Sexvideos dessen Sexualleben.

Dmitry Glukhovsky 
TEXT

Dmitry Glukhovsky: Text. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Europa Verlag, München 2018. 367 Seiten, 19,90 Euro.

Er sieht, wie Petja Geschäfte gemacht hat, mit wem er Probleme hatte, wie er an seinen Posten kam und sein Vater seine Karriere plante. Er liest von Verstrickungen zwischen Behörden, von Heiratsplänen, die Offiziersdynastien schaffen sollten, von langen Kokainnächten und Drogengeschäften. So demonstriert Glukhovsky die Korrumpiertheit des Ordnungsapparats. Konnte man die Macht des alten Moskau an den Prunkbauten der Kirche und des Stalinismus ablesen, so findet man sie heute im Handy eines Polizisten.

Damit bringt Glukhovsky den Ansatz von Schlögel und Ryklin in die Gegenwart. Er sucht die Spuren der Macht nicht in der Architektur, sondern im Internet. Außerdem schreibt er kein Sachbuch, sondern einen Roman. Und während Schlögel und Ryklin sich die Architektur, die sie vorfanden, nicht aussuchen konnten, erfindet Glukhovsky seine Figuren, den drogensüchtigen Sohn eines ranghohen Offiziers und den verträumten Sohn einer Vorstadtlehrerin. Mit der Internetpublikation von "Metro 2033" und seinem aktuellen Roman über Smartphones ist Glukhovsky technisch voll auf der Höhe der Zeit.

Die Figurenkonstellation wirkt demgegenüber seltsam antiquiert. Glukhovsky inszeniert zwei Männer als moralische Gegenspieler, die aneinander geraten und deren Leben sich schließlich ineinander verstricken. Darum herum gruppiert er schwierige Familien, Prostituierte und Frauen auf der Suche nach einem wohlhabenden Ehemann. Dostojewski hätte sich etwas Ähnliches ausdenken können. Im 19. Jahrhundert. Ohne Internet.

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