Süddeutsche Zeitung

Hörbuch zu Russland:Männer mit Macht

Was ist mit Russland passiert? Dmitry Glukhovsky sucht Antworten in seinen "Geschichten aus der Heimat".

Von Stefan Fischer

Zwanzig Anläufe. Zwanzig Geschichten, die eventuell eine Antwort enthalten auf die Frage: "Was ist mit Russland passiert?" Und zwar nicht erst, seitdem Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat. Sondern: Was ist in den vergangenen fünf oder zehn Jahren passiert?

Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky denkt darüber in seinen zwanzig "Geschichten aus der Heimat" nach. Er selbst lebt längst nicht mehr dort, zu gefährlich wäre es für ihn, der sich offen gegen Putin stellt, sich nach wie vor in Russland aufzuhalten. Aktuell wohnt er in Berlin, "was mir den Luxus beschert, weiterhin die Wahrheit zu sagen", so der Exilant bei seiner Ankunft in Deutschland. Glukhovsky hat sich einen Namen gemacht als Bestsellerautor von Science-Fiction-Romanen, voran der "Metro"-Trilogie.

Im Vorwort zu den "Geschichten aus der Heimat", das als Titel eben jene Frage danach trägt, was mit Russland passiert sei, erklärt der Autor, dass ihm seit Beginn des Krieges viele Ukrainerinnen und Ukrainer schreiben würden: "Sehen Sie, Dmitry, Sie haben das alles vorausgesagt. Wir leben jetzt in ihrem Buch 'Metro 2033'." In dem Roman hausen die Menschen nach einem Atomkrieg in U-Bahn-Schächten und unterirdischen Bunkern.

Glukhovsky hat Science-Fiction-Bestseller geschrieben. Hier erzählt er hart an der Realität

Dmitry Glukhovsky verwehrt sich dagegen, die Dinge vorausgesehen zu haben: Er habe sich immer schon gerne apokalyptische Szenarien ausgemalt, aber nie wirklich geglaubt, dass so eine Barbarei wie Putins Krieg möglich sein könnte, schreibt er im Vorwort seines neuen Buches, für dessen Hörfassung Oliver Brod die Texte behutsam, beinahe nachdenklich liest.

Die "Geschichten aus der Heimat" sind (fast) keine Science-Fiction. Es sind Kurzgeschichten aus der russischen Realität der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit - sie reichen teilweise zurück in die Zeit, als Sotschi sich auf die Olympischen Winterspiele vorbereitet hat und Barack Obama noch US-Präsident war. Kurzgeschichten über Menschen, die Teil eines Systems und einer Gesellschaft sind, die zu verstehen Dmitry Glukhovsky immer schwerer fällt.

Wobei er in den Texten durchaus präzise Psychogramme seiner Protagonisten erstellt, die tatsächlich einiges aussagen über russische Verfasstheiten. Nur lässt sich daraus keine Zwangsläufigkeit ablesen, die zu diesem Krieg führt und zu einer breiten Unterstützung von Putins Linie durch die Bevölkerung. Oder genügt bereits als Erklärung, was Dmitry Glukhovsky bei seiner Ankunft in Berlin im Juni gesagt hatte? "Die Menschen in Russland haben Angst. Sie sagen lieber nichts oder unterstützen sogar die Regierung. Psychologisch ist es einfacher, sich einer großen Macht anzupassen, weil man sich dann nicht mehr fürchten muss."

Häufig stehen Männer im Zentrum, die kurz vor ihrem 50. Geburtstag stehen und sich die Sinnfrage stellen. Wie der Minister Ptscholkin in "Sibirische Weisheit", dem es Angst bereitet, das beste Essen, den besten Sex, das Gefühl größter Machtfülle bereits genossen zu haben. Was soll noch kommen im Leben? Iwan Nikolajewitsch Antonow, Gouverneur im Osten des Landes, wiederum findet in "Utopia" nach wie vor Gefallen daran, seine Privilegien zu genießen. Er verwirklicht sich den Traum einer Paris-Reise. Sein Weg führt direkt ins Moulin Rouge. Dort verhält er sich, wie er es von zu Hause gewohnt ist: Er verlangt, dass die Tänzerinnen ihm all seine sexuellen Wünsche erfüllen. Die Geschichte endet mit seiner Verhaftung und Ausweisung. Antonow wettert: "Was soll das hier für eine Freiheit sein?" Wenn man nicht bekomme, was man wolle.

Es tritt jedoch nicht nur die korrumpierte Elite des Landes auf. In "Eine gute Sache" bekommt ein einfacher Mann die Gelegenheit, eine kriminelle Organisation auffliegen zu lassen. Die Männer, die er bereits in seiner Gewalt hat, reden ihm ein, Außerirdische zu sein, die sich alsbald wieder von der Erde verabschieden. Der Mann lässt sie laufen: "Wenn auch nur die geringste Chance besteht, und sei es nur eins zu zweihundertvierzig Milliarden, dass ihr uns endlich in Ruhe lasst ... darf ich mir keinen Fehler erlauben."

Darin besteht Dmitry Glukhovskys Kunst: seinen Geschichten ein Ende zu verpassen, an dem man als Zuhörer selbst noch nicht fertig ist mit dem soeben Gehörten. Denn einfache, willfährige Antworten auf die Frage: "Was ist mit Russland passiert?" - die liefern die "Geschichten aus der Heimat" nicht.

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