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Diskutiertes Video von Anitta:"Die echte Frau hat Cellulite"

"Vai Malandra", das großartige neue Video von Anitta, serviert der Welt mindestens vier Großdebatten: Sexismus, Schönheitskult, kulturelle Überheblichkeit - und die Gefahr von stehenden Gewässern.

Von Jens-Christian Rabe

Den Pop-Coup zum Jahreswechsel hat der brasilianische Pop-Superstar Larissa de Macedo Machado alias "Anitta" serviert: Der Clip zu ihrer neuen - übrigens grandios angezitterten - Single "Vai Malandra" wurde auf Youtube aktuell gut 73 Millionen Mal abgerufen. Auf Spotify ist der Song der erste portugiesischsprachige, der es unter die 20 meistgehörten Songs geschafft hat.

Noch viel interessanter sind allerdings die Diskussionen um das Video. Es sind bereits mindestens vier, und sie führen mitten hinein in die fantastische, hirnschmelzende Ambivalenz von Pop in Zeiten der Debatten um kulturelle Aneignung, Sexismus, Sexualisierung, Objektivierung, politische Korrektheit und, yep, Gesundheitsvorsorge.

Deshalb zuerst vielleicht eine Zusammenfassung der Ereignisse im Video: Anitta singt und tanzt sich in einer Favela von Rio de Janeiro sehr selbstbewusst ("Vai Malandra" heißt so viel wie "Auf geht's, böses Mädchen"), aber in selten viel mehr als einem sehr knappen Bikini durch allerlei improvisierte Planschbecken und sonstige Pfützen, umgeben von ähnlich knapp bekleideten Frauen und Männern.

Mit anderen Worten: Zu sagen, das Video sei leicht sexualisiert und womöglich etwas vulgär, wäre eher überdiskret. Einerseits. Andererseits ist Vulgarität auch immer noch eines der mächtigsten Medien im Pop. Es kommt darauf an, was man damit macht.

Etwas im Weg auf dem Pfad zum Guten steht Anitta dabei natürlich der Mann, der das Video gedreht hat: Es ist nicht irgendwer, sondern der amerikanische Fotograf Terry Richardson, der bis vor ein paar Monaten der berühmteste Hipster-Porn-Chic-Modefotograf der Welt war. Als solcher hatte er auch noch den "Vai Malandra"-Clip inszeniert, bevor wegen Missbrauchsvorwürfen im Oktober sämtliche großen Mode-Magazine der Welt ihre Zusammenarbeit mit ihm aufkündigten.

Die brasilianische Kulturanthropologin Juliana Borges stellte in einem Kommentar für die Online-Ausgabe des Magazins Claudia deshalb die Veröffentlichung des Videos grundsätzlich in Frage. Das Mindeste, was man in einem so wichtigen Moment, in dem die Frauen endlich ihre Stimme erhöben gegen Belästigung und Missbrauch, tun könne, sei, die Belästiger zu bannen.

Eine dritte Debatte um das Video schließt an die laufende Kontroverse über die sogenannte kulturelle Aneignung an, also die Frage, ob es zum Beispiel zulässig (und nicht respektlos und ausbeuterisch) ist, Rastazöpfe zu tragen oder ein Video in einer Favela, einem Armenviertel mit mehrheitlich schwarzer indigener Bevölkerung, zu drehen, obwohl man, wie die eher hellhäutige Anitta, aus einer gemischtrassigen Mittelschichtsfamilie stammt.

Die vierte Diskussion ist schließlich die, die der Sängerin selbst am wichtigsten ist: Im Video sind gleich am Anfang in Großaufnahme überdeutlich Cellulite-Dellen an ihren Beinen zu sehen. Üblicherweise werden solche körperlichen Makel in Hochglanz-Pop-Clips retuschiert. Anitta bestand aber darauf, sie nicht verschwinden zu lassen: "Es war meine Entscheidung, das Video nicht nachzubearbeiten. Die echte Frau hat Cellulite." Nicht wenige feiern sie deshalb als feministische Ikone. In einem Land wie Brasilien, in dem Schönheitsoperationen in den Teilen der Bevölkerung, die sie sich leisten können, fast schon zum guten Ton gehören, klingt das nicht völlig absurd.

Womit allerdings auf keinen Fall gesagt sein soll, dass die anderen Diskussionen vollkommen abwegig sind - nur kann der Pop eben, besonders wenn er gut ist, ein extrem widersprüchlicher Zeichenschauer sein. Man versteht ihn als Ganzes - oder gar nicht. Und man sollte sich nicht davor fürchten, nass zu werden, also bereit dazu sein, immer auch gleich die ganze Widersprüchlichkeit der Welt vor der Nase zu haben.

Das Gesundheitsamt von Rio übrigens ließ via Twitter zu einem Foto aus dem Clip, auf dem Anitta in einer Pfütze auf einer Dachterrasse steht, übrigens wissen: Stehende Gewässer sind Brutstätten für Krankheiten, die von Moskitos übertragen würden.

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