Diskussion um Klarnamen:"Terroristentochter" und "Stasi IM"

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Sollten Klarnamen veröffentlicht oder den Betroffenen ein Pseudonym zugestanden werden? Die Form entscheidet Debatten.

Johan Schloemann

Als die streitlustige Publizistin Bettina Röhl kürzlich zu Beginn einer Fernsehdiskussion als "Tochter von Ulrike Meinhof" vorgestellt wurde, zuckte sie, kaum merklich, kurz zusammen. Der Inhalt dieser Präsentation war zwar ganz korrekt, und die Angesprochene hat ihn selbst in der Vita auf ihrer Internetseite und in vielfältigen Publikationen offenbart. Ihre Reaktion aber geht auf eine schwierige Vorgeschichte zurück: Bettina Röhl kämpft seit längerem, durchaus verständlicherweise, dafür, nicht auf ihre Rolle als Tochter der RAF-Terroristin reduziert zu werden, die 1961 konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl heiratete und fortan bürgerlich Ulrike Röhl hieß.

Jedoch hat Bettina Röhl im Dezember 2006 einen Rechtsstreit, der durch mehrere Instanzen ging, vor dem Bundesgerichtshof verloren, so dass es erlaubt blieb, sie als "Terroristentochter" zu bezeichnen. "Da es der Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen", so das Gericht, "sind angesichts der heutigen Reizüberflutung einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen."

Man könnte bei diesem Fall unwillkürlich an eine biedere, sehr erfolgreiche Fersehsendung denken, die seit über dreißig Jahren im Süddeutschen respektive Südwestrundfunk läuft. Sie heißt: "Ich trage einen großen Namen". Zu diesem Quiz werden Nachkommen von Personen wie Giacomo Puccini, Alois Alzheimer oder Konrad Adenauer eingeladen, was dann zu erraten ist. Bettina Röhl würde sich in dieser Sendung nicht wohlfühlen.

Apriori jeder Beziehung

"Ich trage einen großen Namen": Dieses Konzept schlägt die Brücke von einer altmodisch anmutenden Welt, die auf die prägende Herkunft des bürgerlichen Familienzusammenhangs ausgerichtet ist, hin zur heutigen Celebrity-Kultur. Man hat oder man macht sich einen Namen. Die erstarrte Metapher des "Tragens" eines Namens aber verweist darauf, dass man sich generell, auch wenn man nicht berühmt ist, auf Dauer schwerlich in der Gesellschaft bewegen kann, ohne Namen und Identität sichtbar mit sich zu führen.

Gewiss, wir haben gelernt, dass Identitäten bei dem Versuch, sie zu definieren, schlüpfrig werden. Und doch: "Dass man weiß, mit wem man zu tun hat", schrieb der Soziologe Georg Simmel, "ist die erste Bedingung, überhaupt mit jemandem etwas zu tun zu haben; die übliche gegenseitige Vorstellung bei irgend länger dauernder Unterhaltung oder bei der Begegnung auf dem gleichen gesellschaftlichen Boden ist, so sehr sie als hohle Form erscheint, ein zutreffendes Symbol jenes gegenseitigem Kennens, das ein Apriori jeder Beziehung ist."

"Tyrannei der Intimität"

Vielerorts gilt das heute weiterhin. Zwar haben sich die Interaktionsweisen der Menschen durch gewachsene Mobilität und Medialität erheblich geändert, seit Simmel vor hundert Jahren, 1908, seine Analyse vornahm. Wir sind längst nicht mehr bloß im überschaubaren Nahbereich aktiv.

Eine häufig anzutreffende Reaktion auf jene entfremdenden Entwicklungen der Moderne hat Richard Sennett in den achtziger Jahren als eine gefährliche "Tyrannei der Intimität" beschrieben: Man versuche nun, den Menschen zum "Geständnistier" zu machen, obwohl doch eigentlich "Zivilisiertheit bedeutet, mit den anderen so umzugehen, als seien sie Fremde". Gegen eine übermäßige Gemeinschaftsrhetorik setzte Sennett die Überzeugung, "dass Menschen durch verbale Konflikte eher zusammengehalten werden als durch verbale Übereinstimmung. Im Konfliktfall sind sie zu gründlicherer Kommunikation gezwungen.

Auf der nächsten Seite: Wie das Internet sich selbst reflektiert - zwischen ausufernder "Ich"-Subjektivität und gleichzeitiger Nichtidentifizierbarkeit.

Aber selbst für diese moderne Debatten-Arena à la Sennett wird man noch die Minimalanforderung voraussetzen dürfen, dass man weiß, mit wem man es zu tun hat - um "an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten" (Jürgen Habermas). Sieht man einmal ab von literarischen und künstlerischen Rollenspielen, so hat man bis vor kurzem in den leidlich demokratischen Gesellschaften gemeint, dass man in ihren Diskussionen - auch wenn diese noch so distanziert und konfliktfreudig gehalten sind - immerhin seinen bürgerlichen Namen anzugeben habe.

Und vielleicht auch noch, soweit relevant, die eigene Rolle im Diskurs: Wenn es etwa um die Arzneimittelpreise im Gesundheitswesen geht, ist es nicht schlecht zu wissen, ob der Diskussionsteilnehmer in der pharmazeutischen Industrie arbeitet oder nicht. Bis vor nicht sehr langer Zeit waren die Leserbriefe in englischen Zeitungen ("Dear Sir . . .") sogar nicht nur mit Namen und Wohnort und gegebenenfalls Beruf, sondern mit der vollen Anschrift gezeichnet.

Recht auf Freiheit

Seit einigen Jahren indes geht es in eine ganz andere Richtung. Unermesslich vermehren sich im Internet die künstlichen Identitäten. Viele Blogger schreiben auf ihren eigenen Seiten ebenso unter Pseudonym wie die Teilnehmer an Diskussionsforen. Es entsteht ein Meer von ausufernder "Ich"-Subjektivität bei gleichzeitiger Nichtidentifizierbarkeit. Nicht zuletzt deshalb, weil keineswegs alle, aber manche dieser neuen Dunkelmännerbriefe verletzend, unerträglich feige oder extremistisch sind, weil sie allen schönen Hoffnungen der Diskursethik auf den Ertrag einer herrschaftsfreien Debatte Hohn sprechen, tobt im Internet derzeit eine Art gigantisches Meta-Forum über die Verfasstheit der Kommunikation selbst.

Da fordern die einen in zivilisierender Absicht, die Angabe des "Klarnamens" obligatorisch zu machen; auf einer Ur-Seite der gemeinschaftlichen Inhaltsproduktion, dem seit 1995 bestehenden "WardsWiki", heißt es etwa: "Im allgemeinen ist zu beobachten, dass diejenigen, die Online-Nicknames benutzen, sich weniger darum sorgen, was sie schreiben." Das ist sehr vornehm ausgedrückt. Andere aber verteidigen die Anonymität: Entweder, weil sie eine gleichsam künstlerische, mit der Fiktion spielende persona beanspruchen - ein Argument, das man bei radikal subjektiven Tagebucheinträgen gelten lassen kann, aber kaum bei Sachdiskussionen und -behauptungen über gesellschaftliche Konfliktthemen. Oder sie sehen in ihrer Maske ein regelrechtes Freiheitsrecht.

Paranoide Warnungen vor dem Überwachungsstaat

Es hängt wahrscheinlich von dem Maß an demokratischem Idealismus ab, wie man in dieser Debatte Stellung bezieht. Man kann auf der Bedingung einer liberalen Deliberation beharren, dass Meinungsbeitrag und die Einbringung der individuellen Persönlichkeit zusammengehören. Mancher mag aber auch eine Eigengesetzlichkeit der digitalen Diskussion postulieren, die von vornherein von der face-to-face-Konfrontation einer Bürgerversammlung noch weiter entfernt ist, als es ein herkömmlicher Zeitungskommentar oder Leserbrief ist. Diese Sichtweise gibt es auch in einer psychologisch-zynischen Variante. Sollen sich die Diskutanten doch in ihrem virtuellen Dauerkarneval mit Schmutz bewerfen - vielleicht hat das einfach eine Ventilfunktion, und dieselben Leute benehmen sich im echten Leben, ohne ihre Nickname-Maske, wieder ganz normal?

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Verfechter der Anonymität im Internet ihre Argumente erkennbar von der juristischen Diskussion über das allgemeine Persönlichkeitsrecht einfärben lassen. Das ist jenes Recht, mit dem Bettina Röhl sich gegen argumentative Sippenhaft verwahren wollte, und auch jenes Recht, mit dem gerade ein Stasi-IM die Nennung seines vollen Namens in einer Geschichtsausstellung verhindern will.

Eigentlich spricht das Grundgesetz davon, dass die "freie Entfaltung" der Persönlichkeit ermöglicht werden soll; da aber Grundrechte vor allem Abwehrrechte sind, ist daraus in der Rechtsprechung in Kombination mit der Menschenwürde nach Artikel 1 vor allem das Recht geworden, seine Persönlichkeit, wenn man nicht will, gerade nicht zu entfalten. Das hat natürlich seine Berechtigung, wenn Rufmord oder Bespitzelung drohen. Aber besorgniserregend ist es doch, wenn die Identitätsverweigerung in öffentlichen Debatten sich an die paranoiden Warnungen vor dem Überwachungsstaat anschließt.

© SZ vom 26./27.4.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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