Diskriminierung und Vorurteile:Die Macht der Toleranten

Mehrere tausend Menschen demonstrieren in Berlin in Solidarität mit den Flüchtlingsprotesten und geg

In Berlin solidarisieren sich Demonstranten mit Flüchtlingen (Archivbild)

(Foto: Imago Stock&People)

In unserer Toleranzgesellschaft herrscht ein gewisser Überdruss der politischen Korrektheit. Trotzdem stecken die Stacheln von Rassismus und Antisemitismus fest im Unterbewusstsein. Denn in Deutschland ist Toleranz auch eine Form der Demütigung.

Von Andrian Kreye

Toleranz ist ein Wort mit einem hässlichen Unterton. Als weißer, heterosexueller EU-Bürger mit gutem Einkommen und bei bester Gesundheit wird man das nie nachvollziehen können. Verstehen vielleicht. Aber diesen Stich der Demütigung, der durch den Körper fährt, wenn die Grenze zwischen Toleranz und Diskriminierung im Nebel der Gedankenlosigkeiten und unbewussten Vorurteile verwischt, den begreift man nur, wenn man ihn auch erlebt hat.

"Vielfalt und Vorurteile: Wie tolerant ist Deutschland?" Diese Frage hat unsere Leser in der siebten Abstimmungsrunde des Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers, das sie beantworten soll. Alles zur Toleranz-Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit, zu verstehen, warum eine Toleranzgesellschaft keineswegs das Ideal einer Debatte ist, die sich seit gut zweieinhalbtausend Jahren durch die Menschheitsgeschichte zieht. Denn es gibt kaum ein Land, in dem Eigenwahrnehmung und Realität so auseinanderklaffen wie in Deutschland. Frauen werden das nachvollziehen können, Deutsche mit einem wie auch immer gearteten Hintergrund und auch sonst alle anderen Menschen, die nicht in die hiesigen Mehrheitsmuster passen. Womit man schon beim Kern des Problems wäre - beim Reden von "den anderen".

Versuchen wir es mit einer Anekdote. Als Reporter ist man ja hin und wieder Extremsituationen ausgesetzt, die einem wenigstens für einen kurzen Moment eine Ahnung von Dingen geben, die einem selbst im Alltag nicht begegnen. Das war in diesem Fall eine Recherche in einer jener No-go-Zonen, die in amerikanischen Großstädten schon lange keine sozialen Brennpunkte mehr sind. Sondern regelrechte Bürgerkriegsgebiete mit einer Polizei, die dort als Besatzungsmacht auftritt und auch so empfunden wird, sowie bewaffneten Gangs, die oft so ähnlich operieren wie Partisanen. Diese Übertreibung ist wichtig, denn die Anekdote soll den Dauerzustand der schleichenden Diskriminierung in einer Toleranzgesellschaft auf einen Moment komprimieren.

Der Fotograf war Franzose. Der Straßenzug in der Hand einer Gang, die in der Black-Power-Bewegung ihren Anfang genommen hatte, als für einen kurzen Moment die Hoffnung bestand, die amerikanischen Ghettos könnten sich doch aus ihrem Elend herausbewegen. Es steckte also nicht nur die eiskalte Kapitalistenhärte des Drogenhandels in der kurzen Frage, was zum Teufel man denn hier auf diesem Block wolle. Und das auch noch mit einer Kamera. Der Frager verstellte den Weg, seine Freunde flankierten. Sie waren jung und in der Überzahl. Der Fotograf antworte kurz mit seinem weichen Akzent. Da hellte sich die Miene des Fragers auf und er rief seinen Freunden zu: "Hey, der ist gar nicht weiß. Der ist Europäer!"

Toleranz als gesellschaftlicher Passierschein

Da findet sich jeder einzelne Aspekt der Toleranz:

Die Machtverhältnisse. Die waren in diesem Falle natürlich auf den Kopf gestellt, aber ganz eindeutig. Man muss das Phänomen der umgekehrten Diskriminierung aber kurz außen vor lassen, weil das die Frage aufwirft, ob es die überhaupt geben kann, ob sie nicht nur Abwehrmechanismen der Diskriminierten gegen die Diskriminierenden sind.

Die Verkrustung. Es war eben nicht nur ein territorialer Anspruch, den der Gangster da manifestierte, sondern die Frontlinie in einem sozialen Konflikt, der längst in eine Sackgasse geraten war. Toleranz ist ja in der Regel nur der erste Schritt, einen Zustand aufzulösen, der sich über lange Zeit verhärtet hat.

Das Gönnerhafte der Toleranz. Diese Unterscheidung zwischen dem Feindbild und dem gerade so Zulässigem war in diesem Moment ja so deutlich, weil die Gang zunächst feindliche Eindringlinge identifizierte und der Anführer dann so etwas wie einen Passierschein ausstellte. Toleranz ist so etwas wie ein gesellschaftlicher Passierschein. Sie war es schon in den ersten Formen staatlich verordneter Toleranz, als es noch um das Zusammenleben der Religionen ging. Die Toleranzedikte der Päpste und Kaiser etwa, die mit dem Edikt des Kaiser Galerius begannen, als er im 4. Jahrhundert die Christenverfolgung beendete.

Und dann steckt in dieser Anekdote natürlich dieser Blick nach Amerika, der die europäische, vor allem aber die deutsche Toleranzdebatte immer wieder bestimmt und verzerrt. Das lässt sich leicht erklären. Das Dritte Reich war die historisch größtmögliche Katastrophe der Intoleranz. Der Befreiung durch die Alliierten folgte zunächst die Phase der Umerziehung und Demokratisierung, die vor allem die USA vorantrieben. Zeitgleich aber löste Amerika die größte Ungerechtigkeit im eigenen Land mit der Bürgerrechtsbewegung auf. Mit dem Wahlrechtsgesetz von 1965 wurde die Gleichberechtigung im Gesetz zementiert. Die nachfolgenden gesellschaftlichen Umwälzungen aber wurden von einer Popkultur aus Rockmusik und Hollywoodfilmen, die sich bis heute ihre befreiende Aura bewahrt hat, in den Rest der Welt und auch nach Deutschland getragen.

Kluft zwischen Tolerierten und Tolerierenden

Amerika gilt als Labor der gesellschaftlichen Umwälzungen. Egal ob Gleichberechtigung, Digitalisierung oder Selbstoptimierung, Amerika ist dem Rest der Welt in der Regel immer noch ein paar Schritte voraus. Die Dynamik hat sich beschleunigt. Toleranz ist in Amerika als gesellschaftliche Norm längst etabliert. Natürlich fallen einem unzählige Fälle ein, in denen diese Norm nicht greift. Doch Diskriminierung und Hass sind der Sonderfall.

Amerika unterscheidet sich von Europa in einem entscheidenden Punkt. Amerika war immer Einwanderungsland und musste deswegen immer wieder aufs Neue einen gesellschaftlichen Konsens finden. Der beruhte nie auf Größen wie Heimat oder Volk. Der Konsens beruhte auf der Verfassung, auf der gemeinsamen Geschichte und der oft so trügerischen Hoffnung, in diesem Land werde man mit Fleiß und Talent sein Glück finden. Doch gerade in den Städten hat man gelernt, sich auf "die anderen" einzustellen, Wege zu finden, friedlich mit ihnen zusammenzuleben.

Jede neue Welle der Einwanderung brachte ja neue Kulturen ins Land - auf die Einwanderer aus dem katholischen Europa folgen die Einwanderer aus dem jüdischen Europa, darauf die aus Lateinamerika, aus der Karibik, aus Asien, aus Afrika. Eines war allen gemeinsam - spätestens mit der zweiten Generation waren sie nicht mehr "die anderen". Sie waren Amerikaner.

In Deutschland gab es nie den Zwang zum Konsens

Europa funktioniert anders und Deutschland unterscheidet sich wiederum von den meisten Ländern Europas. In den ehemaligen Kolonialmächten waren "die anderen" meist Menschen aus den Besitzungen in Übersee. In Deutschland waren es immer wieder Wellen der Wirtschaftswanderung. Doch wer immer auch kam - sie blieben "die anderen", selbst wenn sie einen Pass bekamen. Deutschland und Europa waren jedenfalls nie gezwungen, einen Konsens mit ihnen zu finden. Es reichte schon - die Toleranz.

Und so zieht sich durch jede Toleranzgesellschaft eine Kluft zwischen den Tolerierten und Tolerierenden. Da bleibt eine Frage der Macht und mit ihr das Moment der Demütigung. Es gab Versuche einer Konsensfindung, in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem, nach amerikanischem Vorbild. Dann kam der Marsch durch die Institutionen, die einstmals Progressiven, die Grünen, die Kämpfer und Rebellen kamen an die Macht. Nach ihrem Aufstieg verbreitete sich fast unbemerkt ein Überdruss. Der Konsens wurde als Diktat empfunden, als "politisch korrekt", als freudlos und mürrisch. War man denn nicht das Land, das den Faschismus verjagt, die Umwelt gerettet, die Arbeiter ermächtigt und den Frieden gewollt hat? Was sollten die Empfindlichkeiten? Bald schon waren die untergründigen Vorurteile wieder vordergründig und gar Pop. Im Fernsehland Deutschland pflegten Harald Schmidt die fremdenfeindliche Ironie und Thomas Gottschalk den Sexismus mit Handkuss.

Toleranz wird durch Respekt ersetzt

Die historisch größten Stacheln der Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus halten sich aber hartnäckig im Unterbewusstsein so vieler. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist da das Selbstverständnis, in einem Land zu leben, das die Intoleranz in jeder nur erdenklichen Form so lange und redlich bekämpft hat. Zum anderen gab es eben nie den gesellschaftlichen Druck, sich mit "den anderen" wirklich zu arrangieren. Die Machtverhältnisse blieben.

Jedes Pendel gesellschaftlicher Entwicklungen wechselt immer wieder seine Richtung. Nach der Rehabilitierung der Vorurteile im Überdruss der politischen Korrektheit setzt sich gerade in der jungen Generation eine neue Selbstverständlichkeit durch, die Toleranz durch Respekt ersetzt. An der ältesten und immer noch vordersten Front der Bürgerrechtskämpfe, beim Ringen um die Gleichberechtigung der Frau, sieht man das am deutlichsten. Als sich in den sozialen Netzen unter dem Hashtag #aufschrei scheinbar eine ganze Generation gegen den oft so kumpelhaften Alltagssexismus in Stellung brachte, waren es keineswegs nur Frauen, die da ins digitale Feld zogen. Es war ganz klar - Feminismus ist keine Frauensache. Denn gesellschaftliche Missstände betreffen alle.

Doch wie steht es nun wirklich um Toleranz und Gleichberechtigung in diesem Land? SZ.de und Süddeutsche Zeitung haben sich eine Woche lang diesem Thema gewidmet - im Rahmen des Projekts Die Recherche. Analysen, Interviews, Reportagen, Videos und Grafiken haben sich mit Themen wie dem Alltagsrassismus, der Ausländerfeindlichkeit, dem Verhältnis der Gesellschaft zum Islam, ihren Umgang mit Homosexualität und der Inklusion von Menschen mit Behinderung beschäftigt. Die wichtigsten Beiträge finden Sie in diesem Dossier.

Die Recherche zu Toleranz

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