Dirk von Petersdorffs Gedichtband "Unsere Spiele enden nicht":Rätsel mit Locken

April 7, 2021, Eindhoven, Netherlands: Parked bicycles are seen covered with snow..Rare April snowfall in Europe as cold

Mit ausgebreiteten Armen im Schnee radeln: Dirk von Petersdorffs Gedichte wagen die Utopie

(Foto: Nik Oiko via www.imago-images.de/imago images/ZUMA Wire)

Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles: Dirk von Petersdorff schreibt Gedichte, die auf Ideen leicht verzichten können.

Von Hilmar Klute

Der Dichter Dirk von Petersdorff ist im Hauptberuf - gibt es das bei Schreibenden überhaupt? - ein renommierter Literaturwissenschaftler und Professor in Jena. Er lehrt über Romantik, verortet poetische Kraftfelder im Popsong und weist nach, wieviel Clemens Brentano in Bob Dylan steckt. Aber ist Petersdorff das, was man linker Hand einen Poeta Doctus, einen gelehrten Dichter, nennt?

Zum Glück nicht, denn seine Gedichte entstehen nicht unter den Laborbedingungen wissenschaftlichen Denkens, sondern nach dem Prinzip der sinnlichen Anverwandlung. In seiner neuen Sammlung "Unsere Spiele enden nicht" finden sich Gedichte, die feine Destillate der Alltagserfahrung sind. Manche von ihnen vertrauen sich dem Reim an, ohne verschämt das Metrum unordentlicher zu gestalten. Nein, Petersdorff benötigt nicht die ironische Brechung, wenn er ein altes Sujet wie das Dinggedicht auf seinen Mohairpullover anwendet, der sich im Winter auch als Erinnerungsgegenstand bewährt: "und wenn es schneit, dann können Flocken landen, die hängen bleiben, wie uns alles nützt - / lasst diesen Jungen gehen, unverletzt,/ im Licht der Straßenlampen, unverletzt."

Zur Sicherheit hat sich Petersdorff einen Satz der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska geborgt und diesen als poetologischen Unterzug ins Gebälk seiner Dichtung eingezogen: pathetische Worte mit Mühe leicht erscheinen zu lassen - dieses Prinzip leitet Petersdorffs Versuch, seine kleinen Leuchtfeuer zwischen der Alltagsflüchtigkeit und dem erhabenen Augenblick anzuzünden.

Dirk von Petersdorffs Gedichtband "Unsere Spiele enden nicht": Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht. Gedichte. Verlag C.H.Beck München 2021. 75 Seiten, 20 Euro.

Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht. Gedichte. Verlag C.H.Beck München 2021. 75 Seiten, 20 Euro.

Sehr klug und pointiert ist die feine Engführung in "Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles". Der Titel steht über einem der intellektuell interessantesten Texte dieses Bandes. Petersdorff zeigt darin, was der Lyriker vom Theoretiker gelernt hat, nämlich die Größe, im Gedicht auf Theorie, genauer: auf Ideen verzichten zu können: "Dies hier war ein langes Gedicht, es ging/ um Physik, um Philosophie, um Raumzeit, ein Ereignis hieß Weltpunkt - alles gestrichen".

Es ist Petersdorff nicht an der Behauptung gelegen, sondern es geht ums Herzeigen, um die alltagsgeprüfte Wahrheit: ein Mädchen, das den Sand von den Füßen streift, der Blick aus dem Dachfenster und schließlich die eingehende Schilderung, wie sich die Locken des Mädchens dem Kragenrand nähern, dem eigentlichen Weltpunkt - so lenkt Petersdorff sein poetisches Verfahren.

"Den Gegenständen Farbe geben ist wie reimen", heißt es einmal, und das liest sich wie eine gewitzte poetologische Gegenrede an jene Kritiker, die an Petersdorffs Gedichten gelegentlich die angeblich zu gut geölte Reimmaschine beanstanden, weil diese allzu viel vom kostbaren Inhalt schreddern würde. Auch die Lässigkeit seiner Sujets wurde benörgelt, die populäre Themenwahl, das Alltagsaroma seiner Verse. Denn in den Gedichten des 1966 geborenen Petersdorff geht es oft um sehr feine Verästelungen der sensationslosen Tageserfahrung, um mikroskopisch betrachtete Abläufe und Bilder, auch um übersensible Klangwahrnehmungen an der Grenze zur Einbildung, wie in dem Gedicht "Vor dem Einschlafen".

Im Übergang sind selbstverständlich auch die Erwachsenen

Es ruft die Kindheitserinnerung an ein merkwürdiges Bimmeln wach, das der kleine Junge vorm Einschlafen gehört hat. Es ist der Klang, den der auf ein Gitter fallende Regen erzeugt, das stellt sich in der Mitte des Gedichts heraus. Die physikalische Erklärung ernüchtert den Erwachsenen nicht, denn er weiß seither, "dass es manchen Abenden so wenig braucht wie ein Gitter und den Regen". Man ist immer ein bisschen versucht, sich von diesen Texten trösten zu lassen, aber Poesie ist ja nicht zum Trost da, sondern dient dazu, um autonomes sprachliches und intellektuelles Energiefeld zu umzeichnen.

Gleich am Anfang des Bandes steht das Gedicht über die dreizehnjährige Tochter, ein Übergangswesen vom Kind zur Jugendlichen. Aber hier greift schon die behutsame Hand des Dichters, nein, des Vaters ins Wort: Im Übergang sind selbstverständlich auch die Erwachsenen, deren scheinbar gefestigtes Dasein die Tochter mit ihrer ausgestellten Schlurferei und Einsilbigkeit spiegelt. "Wenn du morgens in die Küche kommst,/ schaust du wie eine Eule,/ in den helllichten Tag versetzt". Die Entfremdung, die Ferne, die trügerische Nähe zwischen dem heranwachsenden Mädchen und den Eltern - all dies wandelt den Blick auf das Kind, das mit immer neuen Zuschreibungen erfasst werden soll. Mal als "glorreiches Phantom", dann als "Rätsel mit Locken" und am schönsten: "Im Sommer schlurfst du als November herum" .

Wenn man im Licht dieses wunderschönen und anrührenden Textes das letzte Gedicht liest, könnte man meinen, sie fahre am Schluss als Dezember herum. Denn die Radfahrerin in "Fahrrad im Winter" könnte die Tochter sein. Sie radelt in eine Schneedecke "und dann lässt sie los, aufgerichtet/ öffnet die Arme". Es gehört eine schöne Portion poetischen Übermuts dazu, seinem Gedicht diesen frischen utopischen Schlenker zu geben.

Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht. Gedichte. Verlag C.H.Beck München 2021. 75 Seiten, 20 Euro.

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