Süddeutsche Zeitung

Dinçer Güçyeters Roman "Unser Deutschlandmärchen":Fatma ist mein Name

Dinçer Güçyeter orchestriert Deutschlands Geschichten mit denen der Einwanderer neu, und vielleicht wird dadurch die Erinnerung an ein gemeinsames Leben erst möglich.

Von Insa Wilke

Als Dinçer Güçyeter im Mai für "Mein Prinz, ich bin das Ghetto" der Peter-Huchel-Preis verliehen wurde, ereignete sich etwas Ungewöhnliches: Die Menschen weinten. Man schwor sich, fortan gemeinsam durchs Leben zu gehen. Kam es dazu bloß, weil ein 1979 in Nettetal geborener Dichter, Gabelstaplerfahrer und Verleger seine lebensvoll mitreißenden Gedichte las?

Es gibt eine literarische Tradition, die von dem schweren Leben der Menschen erzählt, die ab 1961 aus der Türkei nach Deutschland geholt wurden, um die Wirtschaft mit aufzubauen. Erst letztes Jahr hat der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli diese Tradition beschrieben. Wovon seine Studie auch zeugt: Es gibt daneben eine Tradition der Ausblendung aus der deutschen Geschichte. Beim Huchel-Preis wurde es plötzlich möglich, um dieses verpasste gemeinsame Leben zu trauern und es also für einen Moment zu leben.

Was macht nun "Unser Deutschlandmärchen" zwischen Büchern wie denen von Emine Sevgi Özdamar, Fatma Aydemir oder Gün Tank so besonders? Anders als Özdamar erzählt Güçyeter nicht aus der Bohème, sondern orchestriert einen Chor von Arbeiterinnen. Anders als Aydemir verzichtet er auf eine eingeübte Form wie den Familienroman. Anders als Gün Tank liebäugelt er mit dem Fantastischen und einer queeren Schreibweise, um auf dem Boden der Tatsachen zu landen, zu denen auch gehört, dass sein Alter Ego im Milieu seiner Herkunft fremd wie ein Pfau im Durchzug steht.

An die Mutter gerichtet schreibt der Sohn: "Vielleicht deshalb werde ich für dich immer auch eine Enttäuschung sein. Je mehr du verhüllt hast, desto nackter wollte ich mich zeigen, je mehr du besitzen wolltest, desto verschwenderischer war ich mit allem." Und: "Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt."

Güçyeter schafft sich und Frauen wie Fatma, ihrer Mutter Hanife und deren Mutter Ayşe eine Bühne. Frauen, die in Anatolien und in Deutschland als Produktionsmittel missbraucht wurden, und als Mütter die Geschlechterrollen und Klassengrenzen konservierten, in deren Enge sie sich ihre eigenen Formen von Souveränität einzurichten wussten. Er würdigt diese Frauen, kritisiert sie aber auch, indem er Ehemänner und Väter wie Yılmaz zeigt, selbst eingezwängt in eine autoritäre Männlichkeit, die weder Selbstreflexion zulässt noch Gefühl und gelähmte, destruktive, haltlose und beziehungsunfähige Menschen zurücklässt. Leicht variiert passt das auch auf in der Kriegszeit in Deutschland geborenen Männer.

Erst der folgenden Generation, erst jemandem wie Dinçer Güçyeter war es möglich, seiner Sensibilität Raum und Form zu geben. Erst durch ihn und diesen flirrenden, sehr eigenwilligen Debütroman, kann seine Mutterfigur sagen: "Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen."

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