Digitalisierung:Verhalten Sie sich ganz normal!

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt beschäftigt sich mit der Erfassung menschlicher Daten - und den Rückwirkungen dieser Beobachtungen auf unser Verhalten.

Von Sandra Rendgen

So einzigartig wie wir uns selbst wahrnehmen, so einfach lässt sich unser Leben in Häppchen zerteilen und messen. All unsere Aktivitäten können quantifiziert und nach statistischen Ausreißern durchforstet werden. Diese Möglichkeit nehmen nicht nur Geheimdienste wahr, sondern auch Firmen. Die Ausstellung "Nervöse Systeme" im Berliner Haus der Kulturen der Welt bietet nun eine eindrucksvolle Reise durch die Welt der systematischen Erfassung menschlichen Verhaltens und der Rückwirkung dieser Beobachtung auf uns.

"Nervöse Systeme" verbindet dabei unterschiedliche Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern. Den Hauptteil bilden künstlerische Arbeiten, die Schlaglichter auf die Ideenwelt hinter der "Datafizierung" unseres Lebens werfen. So hat der französische Künstler Julien Prévieux in der Videoarbeit "Patterns of Life" (2015) mit Tänzern poetische Szenen entwickelt, die Methoden zur Erfassung menschlichen Verhaltens nacherzählen - von der Chronofotografie bis hin zu Geheimdienstkonzepten. Daneben findet sich ein Telegramm des Konzeptkünstlers On Kawara, worin er 1995 einem Berliner Sammler mitteilte: "I am still alive". Anselm Franke, einer der drei Kuratoren der Ausstellung, führt Kawara ins Feld für einen heute weniger beachteten Aspekt der Konzeptkunst - ihre Faszination für quantifizierende Methoden. Kawaras Werk mit seinen Datumsgemälden und Postkartenserien sieht er als konsequente Selbstquantifizierung, eine Mimikry bürokratischer Vorgänge.

Was man nicht kennt, wird zerlegt und damit messbar gemacht

Der künstlerische Ansatz wird ergänzt durch mehrere "Theorie-Inseln", die den klangvollen Titel Triangulationen tragen. Das gleichnamige Verfahren der Landvermessung dient dazu, ein bisher nicht quantifiziertes Territorium in typisierte Dreiecke zu zerlegen und damit messbar zu machen. Diese doppelte Operation ist auch bei der Messung unseres Verhaltens am Werk - denn wie kämen wir sonst zu einer Systematisierung von etwas so vielfältigem wie menschlichen Verhaltensweisen? Die intellektuelle Geschichte dieser Operation stellen die Triangulationen vor. Etwa Sozialstudien des 19. Jahrhunderts, in denen man versuchte, Armut und Kriminalität zu messen, oder auch die Kartierung von persönlichen Bewegungsräumen in der Zeitgeografie seit den 1960er Jahren.

Der sogenannte White Room geht schließlich auf die Arbeit des Tactical Technology Collective zurück, deren Gründer Stephanie Hankey und Marek Tuszynski die Ausstellung ko-kuratierten. Die ästhetischen Anklänge an die Inneneinrichtung großer Apple-Läden sind nicht zufällig, denn hier geht es um unsere digitale Gegenwart: um Methoden und Ausmaß der Datenerfassung, aber auch um Möglichkeiten, eine gewisse Kontrolle zu behalten. Die freundlichen "Bar Worker" helfen mit Erklärungen. Displays zeigen Projekte, die versuchen, die Wege der Datenaufzeichnung sichtbar zu machen. Dazu gibt es anarchische Gegenvorschläge, wie das Metronom, das zur Aufmöbelung von Daten aus Fitnessarmbändern missbraucht wird.

Der Dreisprung von künstlerischen Arbeiten, historischen Momentaufnahmen und konkreter Gegenwartskritik ist sehr ertragreich. Er fordert den Besuchern allerdings auch eine gewisse Bereitschaft ab, den Streifzügen der Kuratoren zu folgen. Bleibt zu hoffen, dass die geplante Publikation diesen assoziativen Reichtum gut dokumentieren wird.

Nervöse Systeme. Quantifiziertes Leben und die soziale Frage. Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Bis 9. Mai. Info: www.hkw.de

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