Netzkolumne:So lala

Dispo

Screenshots der neuen App Dispo, die im Silicon Valley gerade einen Hype erlebt.

(Foto: oh)

Uber für Floristik, Tinder für Hunde: Kann es sein, dass auch der digitale Raum kein Rezept gegen die Beschränkungen der analogen Welt bietet?

Von Michael Moorstedt

Es gibt ja tatsächlich Menschen, die der traurigen Ansicht sind, dass alle Ideen bereits gedacht worden seien. Mit Blick auf die Tech-Branche könnte man zustimmen. "X but for y" ist im Silicon Valley längst zum anerkannten Produkt-Pitch geworden. Uber für Floristik, Tinder für Hunde, Airbnb für Parkplätze - gibt es alles. Man erfindet nicht mehr neu, sondern modifiziert nur noch. Einzelne Aspekte werden entfernt oder hinzugefügt, abgeschwächt oder verstärkt.

Dispo zum Beispiel ist auf den ersten Blick nicht mehr als eine konventionelle Foto-App, wie sie tausendfach bereits existieren. Der einzige Unterschied: Das geknipste Bild erscheint nicht sofort in der eigenen Timeline, sondern ernst nach einer Wartezeit von 24 Stunden. Die App simuliert also eine Einweg-Kamera, wie man sie früher mal gerne benutzt hat. Für diese Warteperiode gibt es selbstverständlich keinen technischen Grund. Außer, dass sie als Alleinstellungsmerkmal dient. Das Prinzip der künstlichen Verknappung kann auch in der digitalen Welt angewandt werden, wo es doch eigentlich keinen Mangel an Ressourcen gibt. Für eine Generation, die mit medialem Überfluss aufgewachsen ist, wirkt das offenbar tatsächlich derartig unerhört und neu, dass Dispo inzwischen als nächster großer Hype gehandelt wird und die Investoren sich darum reißen, auch noch rechtzeitig einsteigen zu dürfen.

Ähnliches, nur nicht auf Fotos, sondern auf die gesamte Befindlichkeit bezogen, probiert eine kleine App namens "U;Good?". Geht es dir gut - so lautet die Frage an die Nutzer, denen als Antwort aber nur drei Varianten zur Verfügung stehen: "Mir geht es gut", "So lala" und logischerweise "Mir geht es schlecht".

Das war's. Einfach nur die Frage nach dem Seelenzustand, kein Endorphin-Kick durch möglichst große Follower-Zahlen und Viralität der eigenen Meinung. In der Social-Media-Sphäre kann man das beinahe als radikal bezeichnen. Vielleicht gelingt es so, die hörenswerten Signale vom permanenten Rauschen zu trennen, zu dem ein Großteil der via App übermittelten Kommunikation ja längst geworden ist - und ein Gespräch erst dann zu führen, wenn es wirklich was zu sagen gibt.

Das Chat-Programm "Honk" lässt einen beim Denken zusehen

Man kann das Prinzip natürlich auch umkehren. Anstatt die Kommunikation bis hin zum Maximum zu reduzieren, wird dann einfach noch eine Schippe draufgelegt. Das ist jedenfalls das Versprechen eines Programms mit dem Namen Honk. Der Twist dieser Chat-App besteht darin, dass der Empfänger dem Absender live beim Verfassen seiner Nachrichten folgen kann. Statt dass man einfach nur "schreibt" sieht, wird jeder Tippfehler, übereilte Gedanke oder mangelnder Sinn in Echtzeit für den Empfänger einsehbar.

Auch wenn es im ersten Moment nicht danach aussieht, wird aber auch hier wieder etwas weggelassen. Nämlich die sorgfältige Inszenierung der eigenen Person, das Spiel mit den Identitäten, die ja oft genug so gut wie gar nichts mit dem eigentlichen Menschen zu tun haben, der da vor dem Bildschirm sitzt. Man setzt nicht mehr vorsichtig kuratierte Botschaften, in denen jede noch so kleine Nuance auf mögliche Missverständnisse oder diskursive Kanten abgeklopft wird, ab - sondern stattdessen einen kontinuierlichen und rohen Bewusstseinsstrom.

Werden sich all diese Apps durchsetzen? Erleben wir gerade den Beginn eines nachhaltigen Wandels? Wird man sagenhaft reich, wenn man jetzt investiert? Wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch. Gerade in Zeiten der permanenten Krise verändern sich die Bedürfnisse der Menschen rasend schnell. War man vor einem Jahr noch von all den Möglichkeiten der Videokonferenzen begeistert, hat sich längst eine große Ermüdung breitgemacht. Aber darum geht es ja auch nicht. Sondern vielleicht eher um die Erkenntnis, dass auch der digitale Raum keine Flucht vor den Beschränkungen und Knappheiten bietet, denen man auch im restlichen Leben oft ausgesetzt ist. Paradoxerweise könnte man im Netz lernen, wie willkürlich diese Beschränkungen auch in der sogenannten echten Welt oft sind.

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