Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Der diskrete Reiz des Binären

Warum war die Digitalisierung erfolgreich? In seiner "Theorie der digitalen Gesellschaft" attackiert der Soziologe Armin Nassehi geläufige Hausmärchen der Kulturkritik.

Von Steffen Martus

In den Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lasen Menschen Bücher, über die sie sich zuvor im Rezensionsteil ihrer Tageszeitung informiert und die sie beim Buchhändler um die Ecke gekauft hatten. In der literarischen Öffentlichkeit begegneten sich die Gebildeten. Was und wie gelesen wurde, galt gleichwohl als Privatsache. Der Literaturbetrieb spiegelte die Werte und Normen der bürgerlichen Gesellschaft wider. Der Büchertisch gehörte zum guten Ton, das Bücherregal dokumentierte stolz die erbrachte Leseleistung. In der Schule galten "Ganztexte" als zumutbar, und beim geselligen Miteinander tauchte man sich über wichtige Neuerscheinungen aus. Wer über bestimmte Werke und Autoren nichts zu sagen wusste, hatte Anlass, sich zu schämen.

Eines Tages aber kam die böse Digitalisierung. Amazon & Co. zerstörten den stationären Buchhandel wie so viele andere vertraute Wirtschaftsformen. Bildung wurde durch Erlebnismanagement ersetzt, Qualitätsjournalismus durch soziale Medien. Die Privatheit geriet in die Krise, weil die digitalen Lesegeräte permanent Informationen über den Verlauf der Lektüre dokumentierten und die Daten an Großkonzerne weiterreichten. Auf Partys unterhielt man sich nicht mehr über den Aufmacher der Buchmessenbeilage, sondern über die neueste Serie, die auf irgendeinem Streaming-Portal lief und auf die man gerade bei Facebook gestoßen war. Im Ikea-Katalog wurde die Bücherwand durch andere Dekorationen ersetzt. Die digitalen Medien hatten die schöne alte, analoge Welt kaputt gemacht.

Warum aber war die Digitalisierung so erfolgreich? Warum haben sich alle so schnell darauf eingelassen? Das ist die einfache Ausgangsfrage des Münchner Soziologen Armin Nassehi. Seine Antwort lautet: Die Digitalisierung pirschte sich gar nicht von außen an die Moderne heran. Sie drang nicht als Fremdkörper ein. Sie gehörte vielmehr schon immer dazu. Die ganze Geschichte von der Zerstörung einer wohlsituierten analogen Welt durch eine digitale Postmoderne zählt für ihn zu den Kinder- und Hausmärchen der Gegenwart. Medien, so die funktionalistische Überzeugung Nassehis, haben nur dann Durchsetzungschancen, wenn die Gesellschaft etwas mit ihnen anfangen kann. Worin also bestand das Problem, für das die Digitalisierung eine so evidente Lösung anbot, dass sich binär codierte Daten aus dem Alltag nicht mehr wegdenken lassen?

Nassehi ist ein Vertreter der Systemtheorie und erzählt Gesellschaftsgeschichte nach dem Vorbild des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann. Demnach orientierte sich die vormoderne Gesellschaft an einem Schema, das alles in den Kategorien von "oben" und "unten" unterbrachte. Wer sich "oben" befand, war wichtiger, relevanter, hatte recht und durfte entscheiden. Äußere Merkmale markierten den Platz in der sozialen Hierarchie. Verhaltenslehren, Kleider- oder Zeremonialordnungen gaben klare Regeln vor und machten Ordnung sichtbar. In der Moderne setzt sich ein anderes Strukturprinzip durch: die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in soziale Subsysteme, die nicht übereinander-, sondern nebeneinanderliegen. Die Politik etwa kann zwar "Anreize" für die Wirtschaft setzen. Was aber die Wirtschaft mit diesen Anreizen anfängt, handeln die ökonomischen Akteure unter sich aus. Ähnlich verhält es sich mit Wissenschaft oder Kunst.

Digitale Technologien machen die Mustererkennung zu ihrer Geschäftsgrundlage

Der entscheidende Effekt dieser sozialen Strukturveränderung besteht darin, dass die Gesellschaft komplexer wird. Es geht nun immer sehr speziell zu, als hätte man es mit Nerds zu tun, die zwar über ein extrem differenziertes Problemlösungsvermögen in ihrem Bereich verfügen, dafür aber den Rest der Welt aus dem Blick verlieren.

Zudem wird die soziale Ordnung zunehmend unsichtbar. Sie lässt sich nicht mehr so einfach aus Äußerlichkeiten ableiten und in repräsentative Formen bringen. Die Gesellschaft benötigt daher neue Verfahren, um im Chaos scheinbar individueller oder hoch spezialisierter Handlungen noch "Regelmäßigkeiten" zu entdecken. Hier tritt seit dem späten 17. und massiv seit dem 19. Jahrhundert die Statistik auf den Plan und damit ein modernes Datenmanagement, das latente Strukturen entdeckt, die den Akteuren nicht bewusst sind. Die neuen Sozialingenieure listen Zahlenkolonnen auf, mit denen sie die Welt in einem extrem abstrakten Datenformat "verdoppeln".

Bereits sehr früh wird auf diese Weise beispielsweise in Untersuchungen zum Heiratsverhalten das "Parshippen" vorbereitet. Das romantische Paradigma der Liebe bürdet zwar vordergründig den Individuen die Entscheidungslast für die Paarbildung auf, gleichwohl ergibt sich aus einer breiten Datengrundlage, dass das alles viel schematischer funktioniert, als den Akteuren bewusst ist.

Es zeigen sich auf neue Weise "Muster", und genau hier beginnt für Nassehi die Digitalisierung der Gesellschaft. Digitale Technologien machen diese Verfahren der Mustererkennung lediglich zu ihrer Geschäftsgrundlage. Sie holen gewissermaßen auf Ebene der Hardware nach, was vom Problembezug her schon lange an der Zeit war. Was auch immer wir tun, stets fallen Daten an, auf deren Grundlage die unbewusste soziale Ordnung errechnet wird, und zwar weit entfernt von den Intentionen, mit denen die "User" PCs und Smartphones bedienen. Diese Mustererkennung zielt auf die Potenziale einer Gesellschaft, auf unsere politischen Neigungen und ökonomische Verführbarkeit, aber auch auf die Bereitschaft zur Kriminalität oder den Beitrag zum Verkehrsverhalten.

Nassehi geht allerdings noch einen Schritt weiter und formuliert eine starke These: Die Pointe an digitalen Verfahren liegt darin, dass der maximal einfache, nämlich binäre Code eine maximale Vielfalt von Einsatzmöglichkeiten bei der "Rekombination" von Daten erlaubt. Aus Perspektive der Systemtheorie ist die soziale Welt ebenso binär codiert, ebenso funktionstüchtig und ebenso selbstbezogen wie die digitale Datenwelt. Ob es sich dabei um eine "bloße Äquivokation" oder tatsächlich um eine "operative Parallele" handelt, mögen die Soziologen diskutieren. Für ein breiteres Publikum - also für Beobachter aus anderen sozialen Systemen als der Wissenschaft - gibt das Buch auch so genug zu denken.

Ausgerechnet die fluide aussehende Digitalisierung verweise auf Stabilitäten

Der Kursbuch-Herausgeber Nassehi, der vor Kurzem für "Herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie" ausgezeichnet wurde, trägt zur Selbstaufklärung bei, weil gerade die Digitalisierung auf die "Gesellschaft" in ihrer ganzen Widerständigkeit und Robustheit aufmerksam macht. Allein die Ausführungen zur Überzeugungskraft funktionierender Technik, die sich stets gegen das "gute Argument" durchsetzen wird, wenn sie sich praktisch bewährt, lässt Berge an kulturkritischem Räsonnement über Autonomieverlust durch Digitalisierung Makulatur werden.

Die Generalthese von Nassehi lautet: "Ausgerechnet die so fluide aussehende Digitalisierung" verweist auf "Stabilitäten". Wir befinden uns mithin zwar in einer Phase mit speziellen Risiken und Technologienebenwirkungen, diese stellen jedoch die Strukturen der Moderne nicht "disruptiv" infrage. Allerdings tut sich Nassehi mit der extremen historischen Ausweitung der Digitalisierung keinen Gefallen. Um die Durchsetzungsfähigkeit eines Mediums zu verdeutlichen, spiegelt er immer wieder die Etablierung digitaler Techniken in der Erfolgsgeschichte des Buchdrucks - die Schrift sei das "erste digitale Medium", weil sie eine "Verdoppelung" der Welt in Datenform ermögliche. Der Buchdruck hat aber nicht nur auf die Beschaffenheit vormoderner Verhältnisse hingewiesen, sondern diese auch zersetzt und moderne Strukturprinzipien angebahnt.

Wenn digitale Medien die gleiche Wirkung wie der Buchdruck entfalten: Stehen wir dann doch an der Schwelle zur "nächsten Gesellschaft"? Dies jedenfalls ist die Deutung von Dirk Baecker, der ebenfalls als Sachwalter von Luhmanns Gedankenerbe auftritt und im letzten Jahre seine Gegenwartsdiagnose vorgelegt hat. Die Medienepoche "4.0", so spekuliert Baecker, werde vermutlich nicht mehr funktional ausdifferenziert, sondern netzwerkförmig organisiert sein. Es ist daher bemerkenswert, dass Nassehi zumindest für einen kurzen Moment Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie als intellektuelle Alternative zur Systemtheorie zulässt. Bei der einzigen Begegnung zwischen Luhmann und Latour auf einer Tagung im Jahr 1995 attackierte der französische Meisterdenker geradezu wütend die Differenzierungstheorie als Sündenfall der Luhmann'schen Soziologie und votierte emphatisch dafür, Vernetzungen zu analysieren. Luhmann reagierte darauf gewohnt lässig.

Wohlfeile Einwände gegen die Systemtheorie kann man sich tatsächlich sparen. Dafür war Luhmann viel zu klug und erwartete, dass man ihm zumindest die Kenntnis der gängigen Gegenargumente zutraute. Als er in einem Interview einmal gefragt wurde, welche Kritiker er am meisten fürchte, meinte er trocken: "Die dummen."

Nassehi profitiert von der intellektuellen Kaltschnäuzigkeit der Systemtheorie und liebt es, den Leser narzisstisch zu kränken: Auch die "natürliche" Intelligenz verhält sich im Normalfall nicht so außerordentlich, dass die "künstliche" den Vergleich mit Menschen scheuen müsste. Die Privatheit, die viele durch die sozialen Medien in Gefahr sehen, gab es nie. Individuen gleichen sich in ihrer Individualität doch sehr stark. Die Datenmaschinerie weiß besser über uns Bescheid als wir selbst, und stellt daher die Autonomiefiktionen des modernen Subjekts infrage. Wie nebenbei gibt Nassehi damit nicht nur eine Einführung in die Systemtheorie, sondern zugleich in ausnüchterndes soziologisches Beobachten und Denken.

Weil aber Luhmann einer der klügsten Menschen war, die jemals gelebt haben, sind seine Schüler nicht nur in der Regel extrem schlau, sondern immer auch ein wenig zu bedauern. Entweder stellen sie sich in den Schatten des Meisters oder sie müssen sehr laut "Ich" sagen, um ihr Stimmrecht geltend zu machen. Und das tut Nassehi auf eine fast schon unanständig aufdringliche Weise. Luhmann war nicht weniger hart in der Verachtung der meisten soziologischen Angebote, die ihm - wie auch Nassehi - als unrettbar naiv und kurzschlüssig erschienen, nur formulierte er seine Vorbehalte deutlich vornehmer. Sein Arbeitsalltag, zu dem es auch gehörte, sich "ganz konzentriert auszuruhen", endete in der Regel um 23 Uhr im Bett, wo er "ein paar Dinge" las, die er "zu dieser Zeit noch verdauen" mochte. Welche Werke seiner Kollegen damit gemeint waren, bleibt der Fantasie überlassen. Jürgen Habermas konnte jedenfalls nie ganz ausschließen, dass seine "Theorie des kommunikativen Handelns" auf Luhmanns Nachttisch lag.

Bei Nassehi muss man nicht lange spekulieren, worüber er einschläft. Es gibt bei ihm ganze Listen zu Studien, die sich unter seinem Beobachtungsniveau befinden. Theoretisch mag ihm die "Zurechnung auf Personen" suspekt sein. Rhetorisch schätzt er diese "Illusio" des modernen Individualismus dann aber doch.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2019
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