Digitales Theater:Himmelhoch jauchzend

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Voll verliebt: Lotte (Klara Wördemann) und Werther (Jonny Hoff) lernen sich im Internet kennen. (Foto: Cosmea Spelleken/Werther Live)

Also doch: Das Projekt "Werther.live" zeigt, wie berührend Theater im Netz sein kann.

Von Christiane Lutz

Am Ende ist nur noch dies zu sehen: eine Pistole, aus der Blumen explodieren. Werthers Profilfoto. Dann ein Schluchzen. Stille. "Ist es noch zeitgemäß, sich umbringen wegen einem Girl?" fragt Wilhelm, Willi, seinen Freund Werther im Zoom-Gespräch. Dass Werther die Frage am Ende mit gebrochenem Herzen mit "Ja" beantworten wird, ist hinlänglich bekannt. Der Weg bis zu diesem Ende aber ist bei "Werther.live" frei nach Johann Wolfgang von Goethe so beglückend und traurig, als höre man die Geschichte zum ersten Mal. So konsequent, lustig und liebevoll hat Regisseurin Cosmea Spelleken den Text in die Gegenwart und vor allem ins Internet übertragen.

Die Zuschauenden teilen für zwei Stunden Werthers Blick auf dessen Screen, wo sich das Leben derzeit abspielt, ist ja Corona, auch Werther (völlig liebenswert gespielt von Jonny Hoff) muss zu Hause sitzen. Über Ebay-Kleinanzeigen kauft er ein Waffenbuch von einer gewissen Lotte Stein (angemessen bezaubernd: Klara Wördemann), sie kommen ins Gespräch. In Echtzeit sieht man die beiden Nachrichten über Whatsapp tippen, Tippfehler löschen, während nebenan im Chat ein Kumpel um eine Einladung zu Clubhouse bittet.

Hier sieht man, was Wunderbares entstehen kann, wenn Künstler das Internet und seine Bedingungen nicht als Krücke betrachten, sondern zum Medium erheben, das die Geschichte überhaupt erst möglich macht.

Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie schrecklich steif viele Häuser im digitalen Raum agieren. Stundenlange abgefilmte Inszenierungen musste man über sich ergehen lassen, oder, schlimmer, angeblich digitale Formate, die dann gar keine ernst gemeinten digitalen Formate waren, sondern wieder nur Abgefilmtes. Es herrschte eine gewisse Ratlosigkeit an den Theatern, denen ihr wichtiges Alleinstellungsmerkmal, die Begegnung mit echten Menschen im echten Raum, abhandengekommen war. Irgendwann war der Schock überwunden, es entstanden ein paar tolle Produktionen wie die VR-Theaterstücke am Staatstheater Augsburg oder die Web-Serie "Edward II" am Schauspiel Köln.

Falls es aber so etwas gibt wie das eine rundum geglückte digitale Stück dieses mühsamen Theaterjahres, dann ist es dieses. Dabei steckt hier kein großes Haus hinter "Werther.live", sondern das Kollektiv "Punktlive", das sich erst während der Pandemie erfand und bis heute nicht analog getroffen hat. Die Gruppe um Regisseurin Cosmea Spelleken nutzt das Digitale nicht nur, sie umarmt es. "Werther.live" ist keine Notlösung, es ist komplett aus Mitteln der Internet-Kommunikation gebaut: aus Instagram, Facebook, Skype, Whatsapp und so fort. Werther stalkt nicht nur Lotte obsessiv auf Instagram, sondern auch deren Freund Albert, einen Öko, der Regenwälder retten will, zumindest schreibt er das auf seinem Blog. Diese Abgründe kennt jeder, der seit Erfindung der sozialen Netzwerke schon mal verliebt war.

Schon bei ihrem ersten Skype-Gespräch verlieben sich Lotte und Werther, plötzlich ist man mittendrin in jener exklusiven Intimität, die so nur in der digitalen Annäherung existiert. Man fühlt diese drei verheißungsvollen Pünktchen, wenn der andere schreibt, das Zurückzucken, weil man erst abwarten will, was der andere sagt. Mit dem Zeiger seiner Maus fährt Werther Lottes Augenbrauen nach. Hier ist alles drin, was die Geschichte ausmacht: der Wahnsinn der Jugendliebe, postpubertär und albern, himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, buchstäblich. Näher geht nicht, nicht digital.

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