Digitales Leben:Allzeit bereit

Was nutzt es einem, im Beruf keine E-Mails mehr zu beantworten? Das neue Recht, sich vom Internet abzukoppeln, ist eigentlich nur ein Privileg. Wird es nicht weitergedacht, wird es nur die ohnehin Wohlhabenden schützen.

Von Evgeny Morozov

Das globale Rennen um die Zähmung und Zivilisation des digitalen Kapitalismus hat begonnen. Am 1. Januar ist in Frankreich das sogenannte Recht auf Verbindungsabbruch in Kraft getreten. Firmen mit mehr als 50 Angestellten müssen die Verfügbarkeit und Arbeit ihrer Angestellten in der Freizeit genau regeln. In Südkorea wurde 2016 ein ähnliches Gesetz befürwortet und zu Beginn dieses Monats stellte ein philippinischer Abgeordneter ebenfalls eine solche Maßnahme vor und erhielt sogar die Unterstützung einer einflussreichen Gewerkschaft. Sicherlich werden weitere Gesetze folgen, zumal Firmen wie Volkswagen und Daimler bereits Zugeständnisse ohne Rücksicht auf nationale Rechtsvorschriften gemacht haben.

Was sollen wir aus diesem neuen Recht machen? Wird es sich dem "Recht auf Vergessenwerden" anschließen, welches das Löschen von Daten nach einer bestimmten Zeit verlangt? Wird es eine weitere Maßnahme, um die Exzesse des digitalen Kapitalismus auszugleichen? Oder wird es uns falsche Hoffnungen machen und Dinge belassen, wie sie sind, ohne die fundamentalen Dynamiken der globalen Wirtschaft zu thematisieren?

Zuallererst muss ein wenig Klarheit geschaffen werden, denn in der Freizeit nicht auf berufliche Mails zu antworten und dieses Privileg dann "Recht auf Verbindungsabbruch" zu nennen, ist etwas irreführend. Nach dem Stand der Dinge werden durch diese knappe Definition viele weitere soziale Beziehungen ausgeschlossen. Solche nämlich, in denen der lang- oder kurzfristige Verbindungsabbruch sogar wünschenswert ist und wo das Verbunden-sein-Müssen für die einen Profit, für andere bloßen Machtmissbrauch bedeutet. Zuletzt ist die Konnektivität nicht nur ein ausbeuterisches, sondern auch ein dominierendes Mittel. Das allein im Arbeitsumfeld zu thematisieren reicht nicht.

Man muss nur an all die hochwertigen Daten denken, die wir in der "smarten" Stadt, dem "smarten" Zuhause oder sogar im "smarten" Auto produzieren. Dass wir dies tun, ist kein Geheimnis - sicherlich nicht für Versicherungsfirmen, die unsere Prämienzahlungen verringern wollen, und auch ganz bestimmt nicht für Finanz-Start-ups, die uns billige Kredite versprechen, sollten wir unsere Daten mit ihnen teilen. Von öffentlichen Institutionen werden wir wegen unserer Präsenz in den sozialen Medien verurteilt. Man denke nur daran, dass US-Grenzbeamte angeblich Touristen nach deren Social-Media-Konten fragen.

Kann man es sich überhaupt leisten, die Verbindung mit Versicherungsfirmen, Banken und Einwanderungsbehörden abzubrechen? Prinzipiell ja, wenn man sich die immer größer werdenden sozialen wie finanziellen Kosten der Anonymität leisten kann. Diejenigen, die die Verbindung kappen wollen, werden irgendwann dafür zahlen, in Form höherer Zinsen und teurer Versicherungspakete. Oder sie werden mehr und mehr Zeit beim Versuch vergeuden, Einwanderungsbeamte von ihren friedlichen Absichten zu überzeugen.

Was nutzt es, im Beruf keine Mails zu beantworten, wenn man privat im Netz unterwegs ist?

Indem wir Daten generieren und die elementarsten digitalen Dienste verwenden, stellen wir einen enormen, wirtschaftlichen Wert her. Manche prophezeien bereits den Beginn digitaler Arbeit, und falls diese Menschen auch nur ansatzweise recht haben sollten, dann zählt das Beantworten persönlicher E-Mails logischerweise auch als Arbeit. Natürlich fühlt es sich nicht so an, und ganz richtig würden die meisten von uns die Verwendung sozialer Medien als eine neue Sucht beschreiben.

Diese Sucht hat eine eindeutige Ursache: Viele Programme, die unsere Aufmerksamkeit fordern, sind genau deswegen geschaffen worden. Sie wurden an Millionen Benutzern getestet und perfektioniert. So konnte diese lang anhaltende Sucht konstruiert werden, die uns dazu bringt - Klick für Klick - so viele unserer Daten wie nur möglich preiszugeben.

Was haben wir von dem Recht, unsere arbeitsrelevanten E-Mails nicht checken zu müssen, wenn wir es dann dafür verschwenden, wie hypnotisiert den Update-Button bei Facebook und Twitter anzuklicken? Einige Firmen werden verlieren, da sie nicht von uns erwarten können, immerzu verfügbar zu sein. Andere Firmen wiederum - Facebook und Twitter - werden durch die Daten gestärkt, die wir ihnen nur allzu gerne überlassen.

Da es fast keine wirtschaftlichen Alternativen in der Entwicklung digitaler Kommunikation gibt, kann diese Sucht nur durch den Verbindungsabbruch bekämpft werden. Allerdings müsste der Verbindungsabbruch dann nicht als Recht, sondern eher als Dienst behandelt werden: Jeden Monat zahlen wir eine Gebühr und verwenden eine Software, die unseren Zugang zu Facebook und Twitter limitiert. Oder wir geben noch mehr Geld aus und füllen unser Smartphone mit Dutzenden Achtsamkeits-Apps. Diese bescheren uns alle Vorteile des Zen, ohne uns mit der Spiritualität des Buddhismus zu belasten. Wir können auch für einige Wochen in ein reinigendes Internet-Detox-Camp gehen, von denen es weltweit immer mehr gibt.

Die Lösung ist immer die gleiche: Bezahle - und genieße dann die Freiheit, die einmal ganz selbstverständlich gewesen ist. Statt in der Politik ist die Lösung auf dem Markt zu finden - zu ganz unterschiedlichen Preisen.

Außerhalb des unmittelbaren Kontextes einer Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung, ist das "Recht auf Verbindungsabbruch" genauso wichtig im Kampf gegen Angst und Stress wie das Recht auf Abstinenz im Kampf gegen Alkoholismus. Jedoch ist selbst bei näherer Betrachtung nicht zu erkennen, ob das Recht im Kampf gegen Missbrauch durch Arbeitgeber stark genug ist. Das liegt daran, dass die Anwendbarkeit für Freiberufler ungewiss erscheint.

Warum? Nun, theoretisch wird uns als Freiberuflern neben Freiheit und Autonomie auch Freude an der Arbeit als unabhängiger Vertragspartner geboten. Sei es als Fahrer für Uber oder als Kurier für Deliveroo, die Arbeitszeiten sind flexibel und können an unsere Vorlieben und Zeitpläne angepasst werden. Doch es läuft natürlich ganz anders. Erstens muss jemand, der sich damit seinen Lebensunterhalt verdienen will, bereit sein, lange Schichten zu arbeiten und allzeit verfügbar sein. Zweitens kann das Ablehnen von Fahrten oder Lieferungen zu ungemütlichen Zeiten bald seinem Online-Rating schaden und im schlimmsten Falle zur "Entlassung" führen. Das Paradoxe daran ist, dass vor allem die Freiberufler das Recht auf Verbindungsabbruch brauchen, da sie niemand zum Arbeiten zwingt. Und trotzdem wird der tatsächliche Verbindungsabbruch fast immer unmöglich gemacht.

Wird dieses Recht nicht weiter gedacht, wir es nur die ohnehin Wohlhabenden schützen

Das führt dazu, dass im Bereich der höchst flexiblen und oft unsicheren Freiberuflichkeit das Recht auf Verbindungsabbruch wenig Sinn ergibt. Und so finden wir uns in der seltsamen Situation wieder, dass geschützte Jobs Zusatzleistungen wie das "Recht auf Verbindungsabbruch" erhalten. Weil das Recht so oft es geht verletzt werden kann, vermehren sich allerdings auch die ungeschützten freiberuflichen Tätigkeiten.

Man darf nicht leugnen, dass sich traditionelle Parteien, allen voran die sozialdemokratischen, durch die Bemühung um das "Recht auf Verbindungsabbruch" Vorteile erhoffen. Allerdings blendet ein Gesetz, das sich an der geschützten, regulären Arbeit orientiert, die Frage danach aus, woher das eigentliche Problem kommt: dass sich die Verbindung eben nicht so einfach abbrechen lässt. Das Recht auf Verbindungsabbruch kann nur dann etwas bedeuten, wenn es weitergedacht wird. Wie kann eine Datengesellschaft grundlegende Elemente der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit beibehalten? Ohne diese Vision wird dieses Recht nur die ohnehin schon Wohlhabenden schützen. Der Rest muss auf dem Markt weiter nach Achtsamkeits-Apps suchen.

Deutsch von Natalie Broschat

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