Süddeutsche Zeitung

Digitaler Wandel und Stadtleben:Smarte Müllabfuhr? Von wegen!

"Google Urbanism" soll Städte schlauer, bequemer, nachhaltiger machen. In Wahrheit dient das Projekt aber nur Immobilienspekulanten - und öffentlicher Raum wird privatisiert.

Gastbeitrag von Evgeny Morozov

Das "Google Urbanism"-Projekt ist einen genaueren Blick wert. Es geht um die Zukunft unserer Städte. Daten, die über einzelne Stadtbewohner gesammelt wurden, werden in Technologien mit künstlicher Intelligenz eingespeist. Dadurch kann ein Unternehmen wie Alphabet - die Mutterfirma von Google - ausgeklügelte und umfassende Dienstleistungen anbieten. Die Städte selbst, so die Projektverantwortlichen, sollen einen Teil der Einnahmen aus diesen Daten erhalten.

Alphabet nimmt Städte ernst. Seine leitenden Angestellten brachten die Idee auf, eine mit etlichen Problemen kämpfende Stadt wie Detroit mithilfe von Alphabet-Dienstleistungen neu zu erfinden. Etwa durch Stadtpläne, Verkehrsinformationen in Echtzeit, kostenloses Wlan (wie in New York), selbstfahrende Autos und vieles mehr. Im Jahr 2015 startete Alphabet hierfür die Stadteinheit "Sidewalk Labs", geleitet von dem Wall-Street-Veteranen und ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister New Yorks Daniel Doctoroff.

Schon Doctoroffs Hintergrund ist ein Indiz dafür, worum es bei Google Urbanism geht: Die Datenkompetenz von Alphabet soll dazu genutzt werden, profitable Allianzen mit den anderen mächtigen Strippenziehern in den Städten zu schmieden, also Immobilienentwicklern oder institutionellen Investoren. Unlängst beauftragte beispielsweise die kanadische Stadt Toronto Alphabet, die Quayside, ein zwölf Hektar großes, unbebautes Gebiet am Wasser, in ein digitales Wunderwerk zu verwandeln.

Sidewalk Labs hat 50 Millionen US-Dollar für das Projekt bereitgestellt - hauptsächlich, um eine einjährige Beratungsrunde zu finanzieren, nach welcher jede der Parteien aussteigen kann. Der 220-seitige Kostenvoranschlag bietet faszinierende Einblicke in Denken und Methodik des Projekts. "Hohe Wohnkosten, Pendeldauer, soziale Ungleichheit, Klimawandel und sogar kaltes Wetter halten die Menschen in den Innenräumen", so Dan Doctoroff kürzlich in einem Interview. Alphabets Arsenal dagegen ist beeindruckend: Günstige, modulare Gebäude, die sich schnell zusammenbauen lassen; Sensoren zur Überwachung der Luftqualität und des Zustands der Anlagen; adaptive Ampeln, die Fußgänger und Radfahrer priorisieren; Parksysteme, die Autos auf verfügbare Plätze lenken. Ganz zu schweigen von Lieferrobotern, fortschrittlichen Energienetzen, automatisierter Mülltrennung und natürlich den allgegenwärtigen selbstfahrenden Autos.

Radfahrerfreundliche Sensoren, smarte Müllabfuhr - alles dient dem Daten-Monopol

Städte, sagt Alphabet, waren schon immer Plattformen; jetzt sind sie eben auch digitale. "Die großartigsten Städte der Welt waren immer Zentren des Wachstums und der Innovation, weil sie auf die Plattformen setzten, die von ihren visionären Führern eingesetzt wurden", heißt es in dem Vorschlag. "Rom hatte Aquädukte, London die U-Bahn, Manhattan das gitterartige Straßennetz." Toronto wird Alphabet haben. Inmitten dieser Plattform-Euphorie vergisst man leicht, dass etwa ein Straßennetz in der Regel keiner privaten Entität gehört, die fähig ist, manche auszuschließen und andere zu bevorteilen.

In Wirklichkeit gibt es kein "digitales Netzwerk", sondern nur einzelne Alphabet-Produkte. Das Kalkül des Konzerns besteht darin, coole digitale Dienste bereitzustellen, um ein vollständiges Monopol bezüglich des Daten-Extraktivismus in einer Stadt zu etablieren. Was als Kompensation für den Aufbau eines digitalen Netzwerks gilt, könnte in Wirklichkeit der Versuch sein, die kommunalen Dienste zu privatisieren. Das langfristige Ziel von Alphabet besteht darin, die Hindernisse für die Akkumulation von Kapital in städtischen Umgebungen zu beseitigen - meist indem formelle Regeln und Einschränkungen durch weichere, auf Feedback basierende Ziele ersetzt werden. In der Vergangenheit, sagen die Macher, "waren diese Verordnungen notwendig, um die menschliche Gesundheit zu schützen, sichere Gebäude zu gewährleisten und negative äußere Einflüsse einzudämmen". Heute habe sich dies jedoch verändert, und "Städte können dieselben Ziele ohne inflexible Stadtplanung und statische Bauvorschriften erreichen."

Eine bemerkenswerte Aussage, denn selbst neoliberale Koryphäen wie Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke erlaubten einige nicht marktwirtschaftliche Formen für die soziale Organisation einer Stadt. Denn im Gegensatz zu den Signalen des Marktes betrachteten sie die Planung einer Stadt als eine praktische Notwendigkeit, die aus der physischen Beschränkung städtischer Räume resultierte. Sie sahen keinen billigeren Weg, die Infrastruktur zu unterhalten, Straßen zu bauen und Staus zu vermeiden. Für Alphabet gelten diese Einschränkungen nicht mehr. Dank ubiquitärer und kontinuierlicher Datenflüsse können die Regelungen der Stadtverwaltung endgültig durch Marktsignale ersetzt werden. Jetzt ist alles erlaubt - bis sich jemand beschwert.

Google Urbanism bedeutet das Ende der Stadtpolitik. Das Projekt geht davon aus, dass größere systemische Transformationen unmöglich sind, etwa die Begrenzung der Kapitalmobilität und auswärtigen Eigentums an Land und Wohnraum. Stattdessen will es die Macht der Technologie mobilisieren, um den Bewohnern zu "helfen", sich an scheinbar unveränderliche globale Trends wie steigende Ungleichheit anzupassen. Etwa durch Selbst-Überwachungsfunktionen, die es überarbeiteten Eltern fast schon magisch ermöglichen, noch Zeit im Terminkalender zu finden; oder indem die Abzahlungen für das Auto verschwinden, weil es unnötig sein wird, ein Auto zu besitzen; oder indem künstliche Intelligenz eingesetzt wird, um die Energiekosten zu senken.

Algorithmen übernehmen die Stadtplanung - so wird der öffentliche Raum privatisiert

Diesen Versprechen, die sich auch auf die Stadtplanung erstrecken, liegt eine Grundannahme zugrunde: Unsere finanzstarke Wirtschaft - geprägt von liberalisierten Immobilienmärkten, die die Preise aufgrund der anhaltend starken globalen Nachfrage ankurbeln, einer Infrastruktur, die auf einem undurchsichtigen, aber sehr lukrativen Partnerschaftsmodell zwischen öffentlichen und privaten Akteuren aufbaut - wird bestehen bleiben. Die gute Nachricht soll dabei sein, dass Alphabet die Sensoren, Netzwerke und Algorithmen besitzt, um unseren Lebensstandard zu bewahren und zu heben.

Aus dem Vorschlag für Toronto wird immer noch nicht klar, wer für diese städtische Utopie zahlen wird. Er erkennt an, dass "einige der wirkungsvollsten Innovationen des Projekts bedeutende Kapitalprojekte sind, die große Mengen an zuverlässiger Abschöpfung erfordern, um finanzierbar zu sein". Kurzfristig könnte Google Urbanism das städtische Äquivalent von Tesla werden: ein Unternehmen, das von unendlichen Verheißungen und unbegrenzten Fördermitteln angetrieben wird.

Alphabets Attraktivität liegt für die Investoren darin, dass sie Raum sehr plastisch und nach dem Baukastenprinzip interpretieren. Alles kann neu gemischt und umgestaltet werden, Boutiquen können zu Galerien werden, um als Kneipen zu enden - solange solche Metamorphosen den Anlegern eine höhere Rendite bringt. Als zentrales Element wird Quayside in Toronto eine Skelettstruktur aufweisen, "die im Laufe ihres Lebens flexibel bleibt und einen radikalen Mix der Nutzungen (wie Wohnen, Einzelhandel, Herstellung, Büro, Gastgewerbe und Parken) erlaubt, der schnell auf Nachfrage des Marktes reagieren kann".

Hierin liegt das populistische Versprechen von Google Urbanism: Alphabet kann den Raum demokratisieren, indem es ihn durch Datenflüsse und billige, vorgefertigte Materialien an sich ändernde Gegebenheiten anzupassen weiß. Das Problem ist nur, dass Alphabets "Demokratisierung" der Funktionen nicht durch eine Demokratisierung der Kontrolle und des Besitzes der städtischen Ressourcen erreicht wird. Deshalb ist auch die Nachfrage des Marktes das wichtigste Kriterium in Alphabets algorithmischer Demokratie, nicht die kommunale Entscheidungsfindung.

Dies führt in vielen Städten zur Privatisierung des öffentlichen Raums. Entscheidungen werden nicht mehr politisch getroffen, sondern an Vermögensverwalter und Banken delegiert. Google Urbanism würde diesen Trend nicht umkehren, sondern beschleunigen. Alphabet kennt das wahre Publikum für seine Städte: die Reichen dieser Welt. Die gern erzählten Geschichten von datengetriebener Nachhaltigkeit und algorithmisch begünstigten handwerklichen Lebensstilen haben den Zweck, den steigenden Wert von Immobilien zu rechtfertigen. Ein unzählige Daten sammelndes, mit Sensoren vernetztes Stadtprojekt wie von Google in Toronto und bald in anderen Städten dient nicht den jetzigen Bewohnern. Ziel ist es, die künftigen Bewohner zu beeindrucken - in diesem Fall vor allem die chinesischen Millionäre, die auf die kanadischen Immobilienmärkte strömen.

Man darf sich keine Illusionen über Google Urbanism machen. Es wäre naiv zu glauben, dass die Allianz zwischen Technologie- und Finanzindustrie in unseren Städten die Macht der Investoren eindämmen könnte. Ein Urbanismus à la Daniel Doctoroff wird die Städte auch dann weiter prägen, wenn Alphabet dabei auf smarte Weise die Müllentsorgung übernimmt.

Aus dem Englischen von Maximilian Sippenauer.

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Quelle:
SZ vom 25.10.2017
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