Süddeutsche Zeitung

Digitale Zukunft:Das Einhorn und die EU

Es geht ums Ganze: Bei der DLD-Europe-Tagung konnten Besucher erleben, mit welchen Handicaps Europa ums Internet kämpft - und aufmerksame Zuhörer versuchen, das einmalige Englisch von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger zu verstehen.

Von Bernd Graff

Die Europäische Union (EU) stellt in vieler Hinsicht eine Herausforderung dar. Einerseits ist die Union sich selbst eine Herkules-Aufgabe: 28 Mitgliedstaaten, bald nur noch 27, müssen irgendwie unter einen Hut gebracht werden, 28 nationalstaatliche Regierungen, die selber wechselndem politischem Binnenklima ausgesetzt sind, müssen in wesentlichen Fragen an einem Strang ziehen. Und obwohl das europäische Kleinklein mitunter wie eine Echternacher Springprozession auf Acid wirken mag, also hierhin springt, dorthin springen wollte, dann aber wieder ganz zurück auf Anfang landet, bekommt Europa erstaunlich viel hin. Eine gegen den Monopolisten Google verhängte Strafe in Höhe von fast zweieinhalb Milliarden Euro Ende Juni des Jahres zum Beispiel.

Die EU stellt aber auch für ihr unmittelbares Umfeld eine Herausforderung dar. Die belgische Hauptstadt Brüssel, die neben der Nato auch den Vielstaatenkoloss EU im Europaviertel Leopold beherbergt, bekommt das ganz gut hin. Die Brüsseler haben eine Umarmungsstrategie entwickelt: gewachsene Stadt-Architektur und der lässige Lebensstil der Belgier absorbieren die vielen Politiker, Lobbyisten und sonstigen Schlipsträger ganz einfach, die wie Aliens um die prägnanten Gebäude von Rat und Kommission herumwuseln.

Was sich hier aber wohl in alle Ewigkeit stranger als strange ausnimmt, ist die Zirbelstubenherrlichkeit der Vertretung des Freistaats Bayern in der Europäischen Union. Sie ist in den Gebäuden des ehemaligen Institut Pasteur untergebracht, das unmittelbar neben dem Fraktionengebäude des Europäischen Parlaments am Rande des Park Leopold liegt, im tiefsten Herzen der EU also. Schon dieser Park ist ungewöhnlich, weil ausgerechnet hier jede Menge Straußen-Skulpturen ihre Betonköpfe in den Sand stecken. Kein Scherz!

Doch das ist nichts gegen die Bayern, die in der modernistischen Burg der EU mit historistischem Historismus eine Art Märchenschloss mit Sagengehöft bewirtschaften. Und hier fand die zweite Ausgabe des Münchner DLD-(Digital Life Design)-Ablegers "DLD-Europe" statt, eine Konferenz, die sich den Speerspitzenfragen der globalen Digitalisierung widmet also im Marstall bayerischer Glückseligkeit.

Trotz dieser äußeren Strangeness ist die Veranstaltung fokussierter und thematisch zwingender organisiert als die Panelvielfalt beim Münchner Original-DLD. Im Zentrum steht die Frage, wie die EU angesichts eines "konstanten Nextnext der Digitalisierung", so der Vorstandsvorsitzende der veranstaltenden Hubert Burda Media, Paul-Bernhard Kallen, in seiner Eröffnung, gleich zwei Herausforderungen bewältigen kann. Einerseits europäische Initiativen zu fördern und andererseits Monopole von außen, meistens aus den USA, zu bremsen. Wie eben mit jenem spektakulären Google-Urteil vom Juni des Jahres.

Das europäische Google-Urteil führt vor Augen, wie der Konzern Mitbewerber verdrängt

Man könne sich auf Europa eben trotz seiner Vielstimmigkeit verlassen: "Brüssel ist das Regulierungszentrum der gesamten IT-Industrie. Washington redet darüber, aber tut nichts. Brüssel handelt." So fasst Kallen das zusammen. Handlung ist auch notwendig. Denn einerseits ist der Gewinn der sieben größten Internetfirmen der USA pro Jahr höher als Schwedens Brutto-Inlandsprodukt. Diese Marktmacht nutzen sie, um weltweit Steuer-und Wettbewerbsvorteile für sich zu erzwingen, weigern sich aber, Verantwortung für das Gemeinwohl in den Gesellschaften zu übernehmen, die sie mit ihren Datenausbeutungsservices beglücken.

Ganz nebenbei, und das führt das europäische Google-Urteil ja erschreckend vor Augen, verdrängen sie ihre Mitbewerber, diese Monopole tilgen Innovation. Darum geriet der mittelbare Schlagabtausch zweier Anwälte, die pro und contra EU-Verurteilung von Google argumentierten, zum Highlight des Tagungstages. Mittelbar war ihr Austausch, weil sie nacheinander Plädoyers hielten. Und weil sie als interessierte Fachkräfte, aber nicht im Auftrag irgendeiner Seite sprechen wollten. Anwälte eben.

Den Auftakt machte Gary Reback, ein Mann, den das amerikanische Law Journal mal einen "Anti-Monopol Champion" und "Bewahrer des Marktes" genannt hat. Reback erläuterte, was Google ab 2007 mit der Werbung von Konkurrenten machte, die diese bei Googles Suchmaschine geschaltet hatten. Es ging um Shopping- und Preisvergleich-Seiten, die plötzlich auf hintersten Trefferseiten angezeigt wurden. Reback sprach davon, dass Google seine Algorithmen solange "massiert" habe, bis nur noch Google-Produkte in den Trefferlisten auftauchten. Und das, obwohl die Rivalen bessere Services, bessere Produkte und bessere Preise anboten als Google.

Warum tat Google das, obwohl diese Interventionen offensichtlich waren und längst beobachtet wurden? Google tat es, so Reback, weil die Mitbewerber Produkte mit Kundenkommunikation und lokalen Features verbinden konnten, also damals besser waren. Sie stellten schlicht existenzielle Gefahr für das Google-Geschäft dar. Sanktionen, die drohten und mit dem EU-Spruch auch ausgesprochen wurden, habe man im kalifornischen Mountain View kaltblütig in Kauf genommen. Weil man "mehr Geld in der Schatulle hat als der liebe Gott" und die Konkurrenz bis zu einer eventuellen Verurteilung pleite und verschwunden sein würde. "Fünf Generationen an Produkten und Innovation sind zwischen 2007 und dem jetzt gefällten EU-Spruch" vernichtet worden, so Reback.

Das wollte Mauritz Dolmans nicht so stehen lassen. Obwohl ihn die Webseite seiner Kanzlei als jemanden beschreibt, der "wirklich alle Aspekte von Googles Geschäften" schon behandelt hat, wollte er hier nur als privater Kommentator auftreten, der Rebacks Vorwürfe maliziös als "Theorien, die die Fakten nicht treffen", abtat.

Er leugnete den Befund auch gar nicht, dass Google-Konkurrenten ins Dunkel der Trefferlisten abrutschten. Das habe aber keine Verdrängung sein wollen, sondern allein den Grund gehabt, das eigene Produkt - die Google-Suche - für den Nutzer zu verbessern. Und außerdem: Die EU wolle, dass Google-Konkurrenten so dastehen wie der Suchmaschinen-Gigant. Dazu müsste Google ihnen behilflich sein. Wo aber stehe geschrieben, dass man seine Mitbewerber hätscheln solle? Schließlich: Es sei gar nicht um die kleinen, nun verdrängten Krauter gegangen, sondern um die Mitbewerber Amazon und Ebay.

Wenn man sich die weiteren Themen dieses Tages und ihre Protagonisten anschaut, die vom Europa-DLD um Auskunft gebeten wurden - der Brexit natürlich, die Vereinheitlichung des Rechts etwa in Urheberrechtsfragen - in denen Europa endlich wie im Google-Fall mit einer Stimme sprechen muss, dann kann man feststellen: Es ist, trotz aller Querelen, Reibereien und Reibungsverluste, ein großes Glück, dass es die EU gibt, die in wichtigen Fragen vielleicht langsam, aber dann doch handlungsbereit wie -fähig ist. Man befinde sich nicht nur bei transatlantischen Verhandlungen in der "Position von Erwachsenen", so der Tenor. Kallen hat ja Recht: Europa handelt im Digitalen; in Brüssel wird unser aller Zukunft gestaltet, auch wenn man es so kaum wahrnimmt. Und schließlich: Es ist immer ein Genuss, Günther Oettinger, den EU-Kommissar für Haushalt und Personal, Englisch sprechen zu hören. Seine Lautfolge: "Sestarrrtappoftudäisseunikorrnoftomorrroww", die den Satz bilden wollte: The Start Up of today might be the Unicorn of Tomorrow" (Die Firmengründung von heute kann bald schon das Einhorn (Glücksfall) von morgen sein), ist in jeder Hinsicht, lautmalerisch wie inhaltlich, beachtlich.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2017
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