Digitale Literatur:Stolpereffekte

Clemens J. Setz will seine Leser ins Bockshorn jagen und lädt zum "Gespräch ohne Autor". Darin findet sich manch Exzentrisches - und ein doppeltes Selbstporträt des Verfassers.

Von Lothar Müller

Clemens Setz

Und hinter tausend Stempeln keine Welt: Auf dieser Postkarte hat Clemens Setz den Panther Rilkes entdeckt, er war gefleckt, nicht schwarz!

(Foto: Surkamp Verlag)

Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, dann können wir hineinblättern, wo wir wollen, die letzte Seite zuerst lesen, die Lektüre unterbrechen und zum Bücherregal oder ins Internet gehen, um eine Behauptung nachzuprüfen, die uns seltsam vorkommt. Und wenn uns das Buch langweilt, können wir es beiseite legen. Der Autor ist dagegen machtlos. Er ist abwesend, während wir lesen, seine Abwesenheit begünstigt die Freiheit des Lesers.

Der Schriftsteller Clemens J. Setz, der 1982 in Graz geboren wurde, setzt gerne Unterbrechungen, unverhoffte Begegnungen und Zufallsgeneratoren an die Stelle überschaubarer storylines. Gern erzählt er die Geschichte, er habe bis zum sechzehnten Lebensjahr keine Bücher gelesen, sondern nur Computerspiele gespielt, bis er 1998 durch eine Zufallsbegegnung mit einem Buch von Ernst Jandl auf den Geschmack gekommen sei. Seitdem ist er ein kultureller Omnivore, der sich von allen möglichen Medien ernährt, von Büchern, Blogs und Bots. Die visuellen Stolpereffekte der "Glitches", der Fehler im Programmcode eines Computerspiels, zählt er zu den Vorbildern seiner Erzählstrategien.

Im Jahr 2015 hat Clemens Setz einen riesigen Roman von mehr als tausend Seiten veröffentlicht, "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". Man kann es ihm nicht verdenken, dass er sich davon ein wenig erholen musste. Aus dieser Erholungspause ist sein jüngstes, ziemlich schmales Buch hervorgegangen. Es heißt "Bot. Gespräch ohne Autor" und ist der Versuch, seine Leser ins Bockshorn zu jagen. Sie sollen glauben, sie hätten hier etwas unerhört Neues vor sich, ein Buch, in dem das Schreiben algorithmisch gesteuert wird und ein Computerprogramm an die Stelle des abwesenden Autors tritt.

Digitale Literatur: Clemens J. Setz.

Clemens J. Setz.

(Foto: Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag)

Clemens J. Setz hat eigens eine kleine Geschichte um den Science Fiction-Autor Philip K. Dick und das aus seinen nachgelassenen Notizen konstruierte Buch "Exegesis" erfunden, um für sein Spiel mit den Lesern ein Modell zu fingieren. Und er hat die Lektorin Angelika Klammer in einen weiblichen Eckermann verwandelt, der in Kenntnis aller Werke von Clemens J. Setz Fragen formuliert, auf deren Schlüsselbegriffe hin ein Computerprogramm die Worddateien durchsucht, die er seit Jahren mit Beobachtungen, Lektürekommentaren, Reiseaufzeichnungen etc. füllt.

Die Spielanordnung ist dazu da, den Verdacht der Eitelkeit zu zerstreuen: "Bekanntlich ist es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine schwer zu verteidigende Eitelkeit, seine Notizbücher und Journale schon zu Lebzeiten zu publizieren. Glücklicherweise schwebte uns aber gerade kein solches Buch vor, sondern ein, in gewissem Sinne, postumes."

Man muss nicht Sigmund Freuds Essay über die Verneinung gelesen haben, es bedarf nur der Freiheit des Lesers, um diese Zeilen gegen den Strich zu lesen und dem Autor zu sagen: Eben das, was Du hier dementierst, praktizierst Du zugleich. Und es ist überhaupt nicht ehrenrührig, seine Aufzeichnungen schon vor dem Tod zu publizieren, es setzt nur ein gewisses Selbstbewusstsein voraus, so wie in Robert Musils "Nachlass zu Lebzeiten".

Digitale Literatur: Clemens J. Setz: Bot. Gespräch ohne Autor. Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Clemens J. Setz: Bot. Gespräch ohne Autor. Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

(Foto: Suhrkamp Verlag)

An heiligen Datensätzen wurde der Einsatz von Zufallsgeneratoren zuerst erprobt, beim "Bibelstechen" wurde irgendeine Seite aufgeschlagen und vorgelesen. Nie mangelte es an Kommentierenswertem. Und, o Wunder, so ist es auch in den Aufzeichnungen des Autors Clemens J. Setz. Er ist nämlich ein sehr wacher Geist, bei dem das Vermischte aus allen möglichen Medien schon kunterbunt nebeneinandersteht, ehe ein Bot darangeht, seine Notizen fiktiv als Interview anzuordnen.

In der kompakten, dicht gefügten Prosa einer Erzählung Kleists ist der Leser gut beraten, sich wie ein Spürhund auf die Fährte zu setzen, die das Zeilenband auslegt. Einem so porösen, luftigen Gebilde wie diesem gegenüber wird er sich verhalten wie jemand, der das Vermischte einer Zeitung liest, manches flüchtig, anderes genauer zur Kenntnis nehmen. Dem Autor dieser Zeilen, um eine verblichene Wendung aus dem älteren Rezensionswesen aufzugreifen, haben es in diesem Buch vor allem die Stellen angetan, in denen Clemens J. Setz sich den einfachen, lange bekannten oder unspektakulären Dingen und ästhetischen Formen widmet. Sie fallen auch deshalb auf, weil so viel Exzentrisches, Bizarres, Apartes um sie herum steht, der Mann, der mit einer Kreissäge Selbstmord begeht, die "Weltmaschine" des Bastlers Franz Gsellmann in der Steiermark.

Zum Unbekannten, das aus dem Bekannten hervortritt, zählt Rilkes Panther, den Setz in den Tagebüchern von Jules Renard und auf einer Postkarte entdeckt. Es zählen dazu die Verwandtschaft von Passwörtern mit Zaubersprüchen, die Kometen, altes Kinderspielzeug, der Tod auf frühneuzeitlichen Holzschnitten, die eingestreuten Gedichte nach festem Reimschema, das Wörtchen "dabei", die Kataloge des Unheimlichen, viele Kindheitserinnerungen: "Der kleine Hulk fuhr als winziger Fahrstuhl meine Kehle auf und ab."

Jeder Nachlass zu Lebzeiten ist ein Selbstporträt des Autors. Dieses ist ein Doppelbildnis. Im Vordergrund steht der nervöse Nerd, der Computerspieler und Internetnomade. Hinter ihm zeichnet sich sein Zwilling ab, ein Autor, dessen Sprachgefühl, Fantasie und Sprachreichtum aus seiner innigen Verbindung mit dem Elementaren, der physischen Existenz, dem Kreatürlichen erwächst. Das Wort Kreatur verbindet Menschen und Tiere. Wer in diesem Buch auf die Tiere achtet, seien es die im Zoo, im Labor, in der Natur oder in Büchern, kommt dem nur scheinbar abwesenden Autor auf die Spur.

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